„Also im Prinzip kann ich das auch“, sage ich am gegenwärtigen Sonntagmorgen zu meiner Mitbewohnerin, nein, Verlobten, nein, Frauhau, die das aber gar nicht mitbekommt, weil sie in letzter Zeit immer einschläft, sobald ich ihr mit einem Gespräch mit mir eine Freude zu machen versuche.
„Hallo?!“, rufe ich also und rüttele dabei an ihr herum, „Ich habe spektakuläre Neuigkeiten! Aus gegebenem Anlass werde ich meine ganze Geisteskraft künftig weniger, also eher gar nicht auf die Firma konzentrieren und dafür meine Erfahrungen mehr unserem Heim und dem Wohl unserer Familie widmen. Und das, was Kavka kann …“
„Kafka!“, murmelt meine Frauhau, „Kafka mit F!“
„Rrrichtig. Kafka mit F. Ich spreche ihn immer gerne mit V, weil das bildungsbürgerlicher klingt. Der Pöbel bemerkt den Unterschied allerdings ohnehin nicht. Kennst du das, wenn man etwas richtiger machen will, als es schon ist? Um zu zeigen, dass man sehr wohl weiß, was richtig ist, und dabei davon ausgeht, dass die meisten es eben nicht wissen? Dass man sich über die demonstrative Betonung der Richtigkeit der Dinge über andere stellen will? Ich nenne es ab sofort correctnessdropping … Also, wo war ich?“
„Du warst bei Brecht.“
„Brecht? Was hätte ich denn mit Brecht zu tun?! Kafka! Was Kafka kann, also eher konnte, er kann es ja nicht mehr, aber wenn er könnte, könnte er es fast so gut wie ich. Also, was Kafka mit F könnte, wenn er nur könnte, also was er kann, dann kann ich das auch. Ich will auf der einen Seite nicht anmaßend sein, auf der anderen Seite aber dann doch, da ich – wie ich meine – in wesentlichen Dingen des Alltags nicht anmaßend bin und ertragen muss, dass die meisten anderen es sind, ohne dafür einen guten Grund zu haben, aber vielleicht schränke ich daher ein und wage die These, dass ich mindestens bei 70, vielleicht sogar 80 Prozent des Niveaus von Kafka … Schläfst du schon wieder?!“
Ich lege Franz zur Seite, erhebe mich unter dem angemessenen Stöhnen eines Mittvierzigers mit einer Geisteskraft auf ihrem Höhepunkt aus dem Bett, betrachte eher beiläufig die Gitterstäbe des beigestellten und tapere ins Wohnzimmer zum Bücherregal.
„Oder Gogol. Wo ist der Gogol?“
Meine fast tauben Augen schweifen über die Buchrücken meiner Weltliteraturklassiker, die im Prinzip alle sterbenslangweilig sind, und halten beim endlich gefundenen Gogol inne.
„Die Nase“, flüstere ich, denn die suche ich. Und finde sie.
„Die Nase!“, rufe ich laut und haste zurück ins Schlafzimmer, wo sich meine Frauhau gerade das Leben zu nehmen versucht.
„Halte ein! Hier, –
An dieser Stelle muss ich als Urheber dieser Zeilen kurz unterbrechen. Ich suche auf meiner Tastatur die „einfachen Anführungszeichen“. Ich habe sie schon so lange nicht mehr genutzt, dass ich sie auf meiner inzwischen neuen Klaviatur der Schriftzeichen nicht mehr finde. Viele greifen ja – aus purer Dummheit – auf den accent agui zurück, aber das wäre ja auch einem Kavka nicht passiert. Und wenn, hätte man es eben als kavkaesk deklariert.
„Kafka mit F!“, ruft meine Frauhau, die es jetzt mit einem Längsschnitt versucht.
Ich finde sie nicht, die einfachen Anführungszeichen. Ich nutze vorläufig das Paragraphen-Symbol. Der Leser möge mir das nachsehen, ich muss ja erst einmal wieder warm werden nach der langen Abstinenz.
„§Die Nase§ von Gogol hätte wirklich ich schreiben können. Im Prinzip hat der Mann mich plagiiert. Präplagiiert. Fast 200 vorausschauende Jahre vor mir. Der Mann ist nicht nur ein begabter Schriftsteller, sondern auch Prophet gewesen. … Pass mit dem Blut auf, ich will nicht wieder das ganze Bett neu beziehen.“
Ich gehe wieder ins Wohnzimmer, wo auch mein Rechner steht. Auf dem und seinen Vorgängern habe ich seit 2015 unfassbare 929 Geschichten geschrieben. Mein Œuvre ist erheblich umfangreicher als das Kavkas.
„Kafka!“, ruft sie.
Und dennoch interessiert es niemanden.
Es klingelt an der Wohnungstür. Post? Paket? Paketpost? Kann nicht sein, es ist Sonntag. Gestapo?
„Meinst du, wenn der Höcke demnächst wieder Leute abholen lässt, dass sie an einem Sonntag kämen? Deportiert man auch sonntags? Und vor allem frage ich mich ja immer, mit welchem Verkehrsmittel. Die Deutsche Bahn fällt ja wohl aus. Steht man da als zu Deportierender am Gleis, Abschnitt C, und dann kommt §umgekehrte Wagenreihung§ oder §Zug fällt aus§ mit Verweis auf den Schienenersatzverkehr gen Arbeitslager. Dann tuckert man mit reichlich Arbeitsperspektive quer durchs Land, bis eine Autobahnbrücke unter einem zusammenbricht. Stichwort Dresden. Nach Dresden 45 läuft demnächst Dresden 24 im ZDF.“
„Mach doch die Tür auf!“, ruft sie nur, als es ein zweites Mal klingelt. Leeeider hat der Autor vergessen, warum es überhaupt klingeln sollte. Achja, bei dem ganzen Kafkagogolgedöns umtreibt ihn die Sorge, dass er Leser verlieren könnte. Immer wenn das droht, kommt:
„Merugin! Du bist’s“, kläre ich Merugin über seine Identität auf, nachdem ich ihm die Tür geöffnet habe.
„Ja, ich weiß. Ich bin hier – und mich nervt es auch, grundsätzlich wochenends Auftritte bei dir zu haben -, um dir vorzuschlagen, dass du deine 929 Geschichten (mit dieser sind es dann ja 930) mir vermachst mit der Maßgabe, sie niemals zu veröffentlichen. Ich veröffentliche sie dann und du wirst berühmt.“
„Ich nehme an, das geschieht alles posthum?“
„Ja, du müsstest also alsbald sterben. Und schau mal, was ich hier habe.“
Merugin reicht mir seine kalte Schulter, die er am Vorabend sauber abgetrennt hat.
„Was soll das?!“
„Gespielter Wortwitz. Kalte Schulter zeigen! Verstehste?“
„Ja, okay, geht so, und vor allem: um welchen Preis?“
Wütend schlage ich die Tür zu und gehe zu meiner Frauhau, die sich gerade an einem stabilen Knoten in einem Seil versucht.
„Wessen Schulter ist das?“, fragt sie.
„Ach, Merugins. Er ist der ungefragten Meinung, dass ich erst sterben müsse.“
„Bevor was?“
„Bevor meine Werke öffentlich werden.“
„Aber sie sind es doch schon. In deinem Blog.“
„Ja, sicher. Aber das reicht nicht. Ich brauche einen Verlag. Und so etwas wie Selbstverlag mache ich nicht. Das muss schon ordentlich sein. Dass auch mal ein Lektor drüberguckt. Beispielsweise finde ich die einfachen Anführungszeichen nicht mehr.“
„Nimm doch den accent agui.“
„Na, eben nicht. Ein lotrechter, halber Strich ist das Zeichen der Wahl. Ein Lektor könnte dann die Paragraphen-Zeichen ersetzen. Er wäre zwar davon genervt und würde abends seiner Familie bei Tische erzählen, er habe wieder ein Meisterwerk dieses Seppos lektorieren müssen, dieses hochtalentierten Autors, der – vielleicht wegen eines Spleens – immer ein Paragraphen-Zeichen statt eines lotrechten, halben Striches nutzen würde. Er fünde das ja recht seppoesk. Und schon wäre der Begriff seppoesk geboren und Generationen von Schülern und Studenten müssten den Begriff lernen, um mein Talent auch nur ansatzweise beschreiben zu können.“
„Du hast mit Kafka nichts gemeinsam. Ich glaube nicht, dass er größenwahnsinnig war. Im Gegenteil. Er wollte nie gelesen werden, er hielt sich für schlecht.“
„Im Vergleich zu mir ist er das ja auch irgendwie …“
„Das meine ich. Man hätte gemeint, du wärst während deiner Schreibpause gereift. Dein Körper ist 45. Doch dein Geist …“
Ich greife zum Kopfkissen und ersticke sie. Metaphorisch natürlich nur, denn das Schreiben ist das eine – viel wichtiger ist aber eine andere Aufgabe, die uns unmittelbar bevorsteht.

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Die WordPress Bloggerin freut sich was zu lesen, die Spießbürgerin ist besorgt. Schriftstellerei statt ordentlich besteuerter Erwerbsarbeit? Und auf die andere Auvgabe bin ich gespannt 🙂
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Keineswegs habe ich der Erwerbsarbeit entsagt!
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Unvassbare 929 Geschichten! Und unvassbar lange Abstinenz!
Und da isser wieder, in alter Bestvorm!
Willkommen zurück, Seppo.
Und ein fieser „Cliffhanger“ am Schluss. Aufmerksame Leser bemerken vielleicht das Gitterbett? Das kann ja was werden …
Eine neue Aufgabe habe ich auch seit Kurzem, die wird irgendwann mal, wenn die Aufgabe nicht zu sehr fordert, in einem Blog verbraten.
Alles Gute nach Dortmund, Berlin oder Münster? Ist so lange her.
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;)
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Ciao Seppo,
zuerst danke für deine Unterhaltung. Dass ich den einen oder andern Blog lese, heisst schon mal, dass ich gewisse interessant genug finde. Verzeih, wenn ich dich jetzt mal so packe, wie du dich selbst darzustellen pflegst. Also, ich bewundere sehr, wie du das einzige, was du kannst, dich auch tatsächlich anzuwenden getraust.
Leben wird man davon wohl nicht können nehme ich an. Oder vielleicht reicht wenigstens die wohlmeinende Anerkennung für deine Kleinfamilie. Nehmen wir mal an von 100 Millionen deutschsprachigen in der Umgebung, sprechen – seien wir mal grosszügig – 0.001 Millionen auf deine Ergüsse an, dann bist du ein Tausendsassa.
Zieh, wenn du magst, den Rauch dieses Lobeshäppchens ein, schliesslich veröffentliche ich diesen Kommentar unter der Rubrik: Sie sind der Meinung, das war … Spitze
Lieber Gruss aus der Hochburg der Humorlosigkeit, Schweiz
Nic
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Ich danke sehr. Und bin ausgesprochen froh, dass ich nicht davon leben will und muss. Im Übrigen hat die Schweiz uns Emil geschenkt. Das ist doch schon mal nicht schlecht! Und als Deutscher kann ich Dir versichern: Humor ist hier nicht gerne gesehen.
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