„Es ist so weit, die Zeit ist gekommen“, eröffne ich meiner Verlobten ein Vorhaben mit enormer Tragweite, „Lange haben wir warten müssen, doch nun sind wir reif dafür.“

„Entschuldigung, worum geht es? Hast du wieder irgendetwas in unserer Küche optimiert und umgestellt?“, fragt sie, „Oder heiraten wir?“

„Nein, viel tragweiter: Am langen Wochenende fahren wir nach Düsseldorf. Nach langer Zeit werden wir wieder das umstrittene Altstadtpflaster der Landeshauptstadt betreten!“

„Was heißt hier nach langer Zeit werden wir‘?! Ich war vor zwei Wochen das letzte Mal da. Eigentlich bin ich oft da!“

„Du wirst ja ganz hysterisch, du weißt nicht, was du da redest“, gaslightne ich, weil ich jetzt weiß, wie das geht.

Ruinenstadt mit attraktivem Zentrum

Von 2008 bis 2018 habe ich elf Jahre meines Lebens und damit ein ganzes Viertel (bislang) dessen in dieser Stadt gelebt und teilweise auch gearbeitet. Zur Genüge habe ich mich daran abgearbeitet, auch hier im seppolog. Daher nur die Kurzfassung, wie es damals zu meiner Rückkehr in meine Heimatstadt Münster kam: Arbeitgeber insolvent, neuer Job in Berlin (Pendelei, Pendelei!), große Unzufriedenheit mit Gesamtsituation, warum also nicht zurück dahin, wo ich eh immer hinwollte?! Diesen Plan hielten meine Verlobte und ich rund elf Monate geheim, da er uns hier und da zum taktischen Nachteil hätte gereichen können. Ende September 2018, das Datum ist in mein Hirn gebrannt, 28., ging es dann zurück in die Hauptstadt Westfalens. Dieses damals tief empfundene Lebensglück habe ich mir bis zum gegenwärtigen Tag erhalten. Noch heute, viereinhalb Jahre nach der Re-Umsiedelung, gehe, laufe und fahre ich durch diese Stadt, betrachte ihre Straßenzüge dabei und kann es noch immer nicht richtig glauben.

Meine Verlobte hielt und hält den Kontakt zu Düsseldorf bis heute, ich hingegen nicht. Ich löschte praktisch diese Lebensphase aus meinem Gedächtnis – nicht etwa, weil ich sie bereute (was nie der Fall war), sondern weil sie keinerlei Relevanz mehr hatte. Es ist schon seltsam, wie aus Gegenwart Erinnerungen werden, die zunehmend verblassen. Düsseldorf, die Stadt, die ich mir bis in den letzten Winkel erlaufen hatte, deren Stadtgeschichte ich aufsog, deren heute noch laufende Umgestaltung ich hochgradig interessiert mitverfolgte: Meine Zeit dort ist eine kurios abgeschlossene Erinnerung für mich: Ich weiß, dass ich da war, ich fühle es aber nicht mehr. So wie ich weiß, dass ich mal studiert habe, es aber nicht mehr fühle, da es vergangen und abgeschlossen ist. Die Erinnerung ist nur noch faktisch, kaum noch emotional.

„Ich will die Stadt wiedersehen, ich will sehen, wo wir früher gelebt haben. Wo wir aus Versehen hingeraten waren, wo wir aus Versehen elf Jahre geblieben sind. Wo ich tausende Läufe absolviert habe. Wo ich – aus Versehen – in den Rhein gefallen bin. Wo ich Ü-40 war!“, erinnere ich mich plötzlich sehr emotional.

„Du hast wieder ein ‚Walk-through-Düsseldorf‘-Video bei Youtube gesehen, stimmt’s?“

„Ja. Und irgendetwas an der Kö haben sie abgerissen, ich kann es nicht zuordnen, aber da entsteht Großes! Neben dem Bahnhof sind ganze Hotelkomplexe entstanden. Aus dem Nichts! Ich muss es mir endlich ansehen!“

Dies ist ein historischer Augenblick!

Ich habe trotz meines Düsseldorf-bashing die Stadt nie gehasst. Sie bietet zwar enorme Angriffsfläche, doch habe ich mich dort immer wohlgefühlt. Gerade für passionierte Läufer ist sie großartig, fast so wie Münster. Und doch gilt, was man in Münster schon immer sagte: einmal Münster, immer Münster. Die Stadt ist voll von reumütigen Rückkehrern. Platz haben wir; Münster ist mit 303 Quadratkilometern tatsächlich größer als Düssel-dorf mit seinen kläglichen rund 217. Da nimmt es kaum Wunder, dass sie so eng und hoch bauen müssen.

Ich beneide die Stadt nicht um die Hochhäuser, die in Münster qua Bebauungsplan schlicht mehr oder weniger verboten sind, denn ich würde ungern dort wohnen. Ansehen, als Tourist: super. Aber wohnen? Nein. Ein bisschen Himmel zwischendurch ist nicht zu unterschätzen.

Und wenn man dort nicht mehr wohnen muss, bietet sich einem die Gelegenheit, die Stadt aus einer ganz anderen Perspektive zu betrachten. Schon Anfang dieses Jahres kam mir der Gedanke, dass es an der Cait ist, Düsseldorf zu besuchen. Meine Verlobte war immer mal wieder da, sehr oft sogar, ich hingegen nicht. Jetzt war ich reif dafür, da ich ja wusste, was sich dort alles verändert hat im Laufe der Jahre: im Prinzip die halbe Innenstadt.

„Dies ist ein historischer Augenblick“, sage ich im April, als wir im Auto Richtung Düsseldorf sitzen. In Anlehnung an John Cleese in Clockwise. Und an mich, vier Jahre zuvor, als wir dem Moloch unsere Rücken kehrten.

Vor uns tut sich das Arag-Hochhaus aus, kurz nachdem wir die A52 verlassen haben. Früher habe ich diesen Anblick gehasst, da er Symbol dafür war, dass ich nach Münster-Besuchen wieder „zuhause“ war. Unweit des Hochhauses (das demnächst durch weitere Bauten ergänzt wird), wohnte ich von 2008 bis 2012 in meiner „Volo-Bude“. Wir fahren vorbei, über die Vautierstraße, dann auf die gute, alte Grafenberger Allee. Meine damalige Straßenbahn-Haltestelle heißt nun Staufenplatz und nicht mehr Burgmüllerstraße, aber das typische Geräusch zunächst bimmelnder, dann anfahrender Straßenbahnen (die 709!!!) ist geblieben: viereinhalb Jahre nicht mehr gehört – schon läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, denn mit der Düsseldorfer Straßenbahn verbinde ich qualvoll zähes Vorankommen, Stau und „Düsseldorf Main Station“.

Wir bewegen uns Richtung Innenstadt mit Kurs auf unser Hotel. Das ist mit weiteren neuen Gebäuden an der Moskauer Straße entstanden, gleich neben „PWC“ am IHZ-Bürgerpark. Seit 2008 weiß ich nicht, wofür das IHZ steht. Industrie- und Handelszentrum? Man weiß es nicht. „Zu meiner Zeit“ begannen sie mit der Umgestaltung der damaligen Brachfläche, wo im Grunde nun ein ganz neuer Stadtteil entsteht. Die Shell-Tanke gegenüber der Lichtstraße ist weg, dort stehen nun Wohnhäuser. An der Tanke habe ich einmal meine EC-Karte verloren und einmal Rum gekauft. Das stuft mein Gehirn als dermaßen wichtig ein, dass ich es nicht vergessen habe. Aber von dieser Veränderung abgesehen stelle ich etwas ernüchtert fest:

„Es sieht alles aus wie ‚früher‘.“

Das gilt für die Wohnquartiere. Überall, wo die Menschen wohnen – sieht man von Oberkassel oder Kaiserswerth einmal ab -, wird eher weniger Geld in die Hand genommen, um es mal freundlich auszudrücken. Ich erinnere mich an meinen Osteuropa-Effekt, den ich damals, 2008, hatte, als ich das erste Mal durch Düsseldorf-Rath joggte. So habe ich mir frühere Sowjetstaaten nach dem Zerfall der UdSSR vorgestellt. Da brauchte es mehr als einen Eimer Farbe … Hier ahnte ich zum ersten Mal, dass zwischen Münster und Düsseldorf ein erheblicher Unterschied besteht. Ich war schockiert. Ich dachte damals immer, Düsseldorf wäre die Stadt der Schönen und Reichen. Naja, so ist das eben mit Selbstbildern und Klischees. Nicht ganz unüberheblich muss ich hier als Münsteraner sagen: Das können wir deutlich besser. In Münster wurde die Daunen-Weste erfunden!

Orte und Gebäude

In drei Tagen Düsseldorf-Trip erleben wir die Stadt im April als Touristen mit Ortkenntnissen. Die Wohnviertel erstmal hinter uns gelassen werden wir Zeugen davon, wie eine Stadt sich neu erfindet und sein Zentrum nahezu komplett neu gestaltet. Ich schwärme in Superlativen von der neuen Schadowstraße mit ihren architektonischen Highlights am Kö-Bogen: eines neben dem nächsten. Jeder Neubau ein Hochgenuss. Sie reißen wirklich alles ab, was es nicht anders verdient hat. Diese Herangehensweise mag ich sehr. Und sie sind noch nicht fertig: Mitten im Zentrum entsteht bald ein Hochhaus ungeahnten Ausmaßes, den ohnehin ganz schicken Landtag erweitern sie um weitere Rundgebäude, die den Rheinturm umschmeicheln werden und auch die Entwürfe der neuen Oper faszinieren mich. Während in Münster seit Jahrzehnten über den neuen Musikcampus diskutiert wird, wird in Düsseldorf einfach gemacht. Und als wir am Medienhafen ankommen, geht mein Staunen weiter. Auch hier mehrere neue Hochhäuser, allesamt für sich genommen und in der Komposition mit den anderen ein orgiastischer Anblick. Ich bin wirklich Fan. Düsseldorf ist eines wirklich: Architektur-Hauptstadt.

„Du und deine Orte und Gebäude“, sagt meine Verlobte in jenen drei Tagen äußerst oft zu mir. Sie hat Recht, ich bestaune „Orte und Gebäude“, sie ist hingegen mehr am Menschen interessiert. Zwischen uns schon seit Langem ein running gag, denn dieser Unterschied spiegelt sich auch in unseren Fotos wider: Auf all ihren Fotos, egal aus welcher Lebensepoche, sind grundsätzlich Menschen zu sehen. Auf meinen hingegen bin entweder ich zu sehen, sonst aber lediglich „Orte und Gebäude“. Und so verbringe ich nach unserem Kurzurlaub viele Tage damit, alte meiner Düsseldorf-Fotos mit den neuen zu vergleichen, um die baulichen Unterschiede festzustellen. Dabei hilft übrigens ein Internet-Forum (baufforum24.biz), mit dessen Hilfe ich schon viele Neubauten in Münster historisch eingeordnen konnte. Ich bin da inzwischen etwas nerdig, vielleicht sogar schon besessen.

Ich habe Düsseldorf nun zu meiner Partnerstadt auserkoren und so werden wir schon in nächster Balde abermals drei Tage dort verbringen, wobei wir dieses Mal neben Orten und Gebäuden auch frühere Freunde wiedertreffen werden, die wir beim ersten Trip außen vor gelassen haben, da wir andere Ziele und Absichten hatten. Daneben werden weitere Orte und Gebäude auf dem minutiösen Programmablauf stehen, die wir im April nicht geschafft hatten. Und so baue ich ein neues Verhältnis zu dieser Stadt auf, mit der ich nie ganz warm geworden war. Für einen Münsteraner ist das auch nicht einfach, ist doch das Gefälle zwischen beiden Städten viel zu stark: auf der einen Seite diese paradiesische Oase, auf der anderen Seite dann Düsseldorf. Die Rechnung ist simpel: Ein Münsteraner, der nach Düsseldorf geht, muss Abstriche machen. Der umgekehrte Weg bedeutet einen Zugewinn an Glückseligkeit, Heiterkeit, Vergnügen und Lebensqualität. Und weil ich genau diese Attribute zurückgewonnen habe, freue ich mich sehr auf unseren nun anstehenden Trip in unsere Partnerstadt.

Es hat lange gedauert, bis sich die Deutschen mit ihrer Nazi-Vergangeneheit auseinandergesetzt hatten, und so hat es auch gedauert, bis ich mich mit meiner dunklen Düsseldorf-Vergangenheit auseinandersetze. Nein, ich finde nicht, dass der Vergleich hinkt.

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