party_seppo_kopf_1215_nikolausDieser Zwang, der Silvester auf einen ausübt, da man ja irgendwo feiern muss, was natürlich kein Naturgesetz ist, katapultiert mich in diesen Minuten nach Niedersachsen, wo wir 2 Sekunden später aufs neue Jahr anstoßen werden als im heimischen Düsseldorf. Zeitzonengedöns, hab‘ ich gerade ausgerechnet. Meine Mitbewohnerin und ich wollen auf diese Weise das Jahr verlängern, weil wir uns so schwer von 2015 trennen können. Wir sitzen in einem Regionalexpress.

Duisburg. Vor uns sitzt einer, der auf unserer Strecke eine Bombe zünden wird. Wenn er sie bei sich trägt, sitzen wir zumindest im Zentrum der Explosion, sodass wir es kaum mitbekommen.

Viel bedrohlicher finde ich jedoch die drei Typen weiter vorn. Einer von Ihnen redet unentwegt. Er gibt Antworten. Aber seine Freunde fragen ihn gar nichts. Ich will nicht spekulieren, aber ich schließe nicht aus, dass er telefoniert. Es geht irgendwie um seine „Muddern“, die mit einer Freundin seiner Freundin befreundet sei, was irgendwie ein Problem für ihn wäre. Und er würde gleich irgend etwas googeln, wenn er in der U-Bahn-Station einen Burger isst. Die drei Freunde begleiten uns aber nur 45 Minuten unserer Fahrt. Zum Glück, denn sein Gerede lenkt mich vom Lesen ab.

Meine Mitbewohnerin ist da konzentrierter, liest einen Psychotest: „Wie echt bist Du?“, so der Titel. Zur Beantwortung dieser Frage muss der Leser zunächst 20 andere Fragen beantworten. Das ergibt kaum Sinn. Denn müsste ich nicht auch zur Beantwortung jeder der 20 Fragen nicht weitere 20 Subsubfragen beantworten?!

Mülheim. Der Bombenleger steigt aus. Meine messerscharfe Menschenkenntnis hat mich offenbar getrügt. Meine Mitbewohnerin hingegen bombardiert durchaus. Mich mit Fragen aus dem Psychotest. Ich kürze galant ab:

„Ich bin nicht echt. Alles Fassade, alles Maske.“
„Dann würde ich Dich gerne kennenlernen!“
„Davor kann ich dich nach elf Jahren Mietverhältnis nur warnen.“

Wir begehen in Balde unser Elfjähriges.

Essen. Ich fahre gerne Zug. Anders als Fliegen, wo ich das letzte Mal „unterwegs“ bloggte. Gestern fiel mir ein, dass schwangere Frauen ein kleines Raumwunder sind. Mich amüsierte das und ich überlegte, meine Mitbewohnerin zu schwängern, denn es ärgerte mich, dass ich das „Raumwunder“ nicht bloggen kann, solange sie nicht schwanger ist.
„Warum willst du mich jetzt so plötzlich schwängern?“, wollte sie wissen.
“ Weil ich dann ‚Raumwunder‘ bloggen kann.“
„Das ist kein hinreichender Grund.“

Also bleibe ich erstmal bis auf Weiteres Unvater.

Wattenscheid. Mich erwartet heute Abend eine kleine Privatparty. Für Silvester optimal. Großer Gott, Wattenscheid hat keinen Bahnhof! Also. Privatparty. Viele Frauen. Mit einer würde ich bedingungslos schlafen. Mal sehen. Was mich etwas besorgt, mehr als der vermeintliche Bombenleger eben, ist die Tatsache, dass möglicherweise Gesellschaftsspiele auf mich zukommen. Diffizile Angelegenheit für mich. Denn wer Gesellschaft ablehnt, hat auch zu Gesellschaftsspielen ein gespaltenes Verhältnis. Wobei, gespalten? Es ist ein eindeutiges Verhältnis. Mein Plan sieht vor, die Spiele zu Trinkspielen umzudeuten, dann bin ich sofort dabei.

Bochum. Hier steigen mehr ein als aus. Sagt viel über Bochum. Die automatische Durchsage unseres Zuges ist offenbar durcheinander gekommen. „Nächster Halt Wattenscheid“ ertönte, als wir in Wattenscheid losfuhren. Der jede Durchsage ankündigende Gong läuft gerade in Endlosschleife. Das nervt, auch die noch immer mitfahrenden drei Freunde fühlen sich massiv gestört beim Stören. Würde beim Fliegen soviel schiefgehen wie bei der Bahn, würde niemand mehr über meine Flugangst lachen.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag ist eine Schulkameradin von mir gestorben. Leukämie. An sich hatte sie es schon überstanden, aber dann kam doch alles anders. Ein Schock, als ich das erfuhr. Zumal sie unsere Nachbarin in Münster war. Ihre Mutter starb ein Jahr zuvor. Und es hinterbleibt ein Mann, der alles verloren hat.

Dortmund. Der Zugführer gibt die Stationen nun selber durch, die Bandansage wurde abgeschaltet. Er wünscht uns allen einen guten Rutsch, klingt aber wahnsinnig betrunken dabei. Er glüht schon vor.

Meine drei Freunde sind ausgestiegen, es sollte nun ruhiger werden. Allerdings sind zwei Mädels eingestiegen, die übertrieben laut darüber diskutieren, in welche Richtung der Zug wohl fährt.

„Vermutlich nicht in die, aus der er kam.“, kläre ich auf und ernte von meiner Mitbewohnerin sich drehende Augen. Aber ist doch wahr!

Traditionell kaufe ich vor Antritt einer Zugfahrt immer zwei belegte Brötchen von „Kamps“ im Bahnhof. Ich habe die Servietten vergessen und entgegen meine Art keine Taschentücher dabei. Das ist nun insofern ein Problem, als dass ich Großteile der Remoulade in meinem Bart hängen habe. Zum Glück hat meine Mitbewohnerin immer Taschentücher in ihrer Handtasche dabei. So auch heute, allerdings nicht dabei, sie hat sie vergessen. Die Handtasche. Nun fahre ich mit Remoulade im Bart ein in

Kamen. Das Bloggen wird schwieriger, kein LTE-Netz mehr. Das erinnert mich an eine israelische Journalistin, die heute Morgen der „Zeit“ ein Interview bei mir im Bett gab. Sie sei gerade in Deutschland unterwegs und erstaunt darüber, dass es im Land der Ingenieure kein wirklich Flächen deckendes freies Netz gebe. In Israel sei das Netz nahezu ein Gemeingut, wohingegen man hier in Cafes teilweise verschämt das Wi-Fi-Passwort erfragen müsse. Noch schlimmer sei das lächerlich teure Datenvolumen, das einem die Handy-Provider zur Verfügung stellten zu einem lächerlich hohen Preis. 5 GB seinen in Israel Standard, hier unbezahlbar. Ich fürchte, die Dame, deren Name mir entfallen ist, hat Recht. Netztechnisch sind wir peinlich unterentwickelt.

Hamm. Der Zugführer wurde gegen eine Zugführerin ausgetauscht. Aber sie klingt noch betrunkener als er. Was ist denn los heute bei der Deutschen Bahn?! Das sind ja traumhafte Arbeitsbedingungen!

Wir sind nun etwas länger als eine Stunde unterwegs und ich stelle fest, dass seitdem mein rechtes Bein über das linke geschlagen ist. Erstaunlich, wie verharrensstark ich bin. Beim Umkehren dieses Seitenverhältnisses stelle ich allerdings unter großen Schmerzen fest, dass meine Gelenke sich verkeilt haben. Ich werde mich somit nun entknoten und wünsche Euch eine schöne Party heute Abend. Vielleicht ja einen Spieleabend …


Guten Rutsch und ein tolles 2016!

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