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„Mutti zittert“, informiert mich mein Bruder, mit dem ich nicht den größten Kontakt habe.

„Warum zittert Mutti?“, erfrage ich.

„Sie hat eine unangenehme Entscheidung getroffen.“

Eine, die mich überrascht hat, denn an ihrer Stelle hätte ich gesagt „Ich lasse mir doch nicht in meine Meinungsfreiheit reinreden“.

Meines Bruders Lesart ist die, dass es ja nur zur Überprüfung dieser kommt. Muttis Regiment zeigt dem Nachbarn aus dem weit entfernten Viertel eben einfach mal, wie das in unserer Familie so läuft.

Selten sah ich Mutti so nervös, so stotterternd, was mich beim Zusehen wirklich fasziniert hatte. Mitleid empfand ich allerdings nicht, es war eher entwaffnend.

Und es war eine Entscheidung, der langwierige Kontroversen vorausgingen. Mein Bruder schwadronierte von heftigem Krach in der Koalition aus meinem Vater und Mutti. Aber gut, Konflikte soll es in den besten Ehen gehen, die Frage ist, ob nun beide Parteien hinter der Entscheidung von Mutti stehen oder man sich zerfleischt. Ich kenne meinen Vater aber als ähnlich besonnen wie mich.

Der hält Mutti zugute, dass sie vieles richtig gemacht habe in den vergangenen Jahren. Aber dass sie nun vor jenem Nachbarn in die Knie geht, findet er dann doch nicht so toll und kündigt an, dass diese Entscheidung Mutti noch um die Ohren fliegen würde.

„Mutti zittert“, sagt nun auch meine Mitbewohnerin. „Nervöse Mutti.“

„Du kanst meine Mutter unmöglich ‚Mutti‘ nennen! Wir sind nicht einmal verheiratet!“

Alle nennen sie doch ‚Mutti‘!“, meint sie.

Ja, das stimmt leider. Lange Zeit war sie in der breiten Masse unserer Nachbarschaft unumstritten. Gerade nach außen hin fiel sie im Nachbarschaftsverein mit guten Entscheidungen auf. Bis sie Stimmung kippte. Bis es Probleme im gemeinsamen Miteinander im Viertel gab. Ein Nachbar-Ehepaar, das ich noch aus meinen Kindheitstagen kenne, die Helens, kamen in finanzielle Schwulitäten und konnten ihren Vereinsbeitrag nicht mehr zahlen. Das Viertel stand vor der Entscheidung, die Helens rauszuwerfen oder für sie zu sammeln. Mutti wollte sammeln, erwartete aber auch, dass die Helens künftig eisern sparen, weil es nicht sein könne, dass die Flothos für die Helens zahlen müssten, nur weil wir Flothos im Geld erstickten, während die Helens weiterhin Fleisch aus der Region (=teures) essen. Nur noch abgepacktes, bitte.

Für eine weitere Krise sorgte Familie Grenzsteyn, die plötzlich in Helens Garten standen, weil es in Grenzsteyns Anwesen einen Wasserrohrbruch gab. Grenzsteyns baten darum, von den Helens aufgenommen zu werden, was denen nicht in vollstem Ausmaß gefiel. Für ein, zwei Familienmitglieder sei ja durchaus Platz, aber vielleicht könnte der jüngste, Gregor Grenzstyn, ja bei Flothos, also bei Mutti und Vater, unterkommen. Mutti öffnete alle Tore, was aber meinem Bruder nicht gefiel.

Es ist verworren und nicht jeder hat alle Informationen und irgendwann weiß niemand mehr, was ist richtig, was ist falsch. Mutti hatte sich sehr früh festgelegt und den Helens sogar einen indirekten Schuldenerlass in der Vereinskasse versprochen, was aber ihre ansonsten so harte Linie konterkarierte, was sie etwas unglaubwürdig machte. Austerität trifft Solidarität. Nicht einfach.

Nun also der jüngste Vorfall, bei dem die Hausziege eines Nachbarns eben jenem entfernten, eingangs erwähnten, Nachbarn zum Opfer gefallen worden sei. Das stimmte von Anfang an nicht und hatte auch niemand geglaubt, aber jener Nachbar fühlte sich in seiner Ehre verletzt. Er würde ja nie mit Ziegen … Und überhaupt, wer hält sich bitte eine Ziege im Wohnzimmer?!

Die nächsten Wochen werden sehr spannend. Muttis Entscheidung birgt Sprengstoff für alle Beteiligten, wenn wir nicht besonnen bleiben und nicht auf wütende Reflexe verzichten, was der Mensch aber selten tut. Ich selber bleibe eher ruhig, trotz meiner Überraschung angesichts der Entscheidung, und warte die nächsten Instanzen ab. Bislang war es immer so, dass ein Problem von einem nächsten überrollt wurde und im Sande verlief. Jetzt jedoch habe auch ich erstmals das Gefühl, sogar die Sorge, dass unruhige Zeiten anstehen. Noch aber geht alles seinen Weg in kontrollierten Bahnen. Hysterie ist fehl am Platz.


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