Wenn ich mit einer Sache nicht klarkomme, dann mit Exomarginalismus, mit dem mein Kioskmann Helmut mich heute konfrontiert hat.

Und es ist die oben gezeigte Tasse, die er mir heute schenkte, als ich nach einem relativ verregneten Lauf bei ihm, meinem Stammkiosk gleich gegenüber unserem Haus, einkehrte, wie es meine nahezu alltägliche Art ist. Wir reden nie viel, da ich zum einen morgens keine Zeit für Zwischenmenschlichkeiten habe und ich zum anderen eh ungern viel rede, wenn es nicht gerade um mich geht. Heute Morgen ging es um ihn.

Will gerade schon wieder das Ladenlokal verlassen mit meinem „Monster“-Energiegetränk, denn mehr will ich gar nicht haben. Mir genügt immer der kleine Plausch, der in etwa immer wie folgt abläuft, von mir den Kiosk betretend eingeleitet:

„Moinsen!“

Dann schnaufe ich, um zu betonen, wie anstrengend der hinter mir liegende Lauf war.

schnauf

Dann Helmut:

„Na, wieder gelaufen?“

Ich dann, während ich vor dem Kühlschrank mit den Getränken stehe:

„Jo.“

Dann suche ich das Getränk meiner Wahl, ein Energiegedöns ohne Zucker. Nicht aber, weil ich glaube, das wäre gesund, sondern weil ich Durst habe und Dinge wie Cola nur dann trinke, wenn Captain Morgan höchstselbst darin badet.

Und wie jeden Morgen finde ich mein favorisiertes Getränk nicht, was entweder daran liegt, dass ich wirklich in manchen Dingen ein Vollhorst vor dem Herrn bin, oder daran, dass sie die Getränke jeden Abend umräumen. Welche dieser Optionen ist nun die wahrscheinlichere? …

Dann gehe ich zum ungekühlten, also nicht kühlenden Regal, wo ebenfalls Getränke stehen und sage dabei:

„Wo habt Ihr denn dieses ‚Monster‘-Energiegedöns? … Ah, hier!“

„Haben wir auch gekühlt!“

„Geht schon. Ist ja eh kalt draußen.“

Irgendwie blöde Antwort, aber warum kühlt man im Herbst, den wir ja irgendwie derzeit haben, Getränke? Doch Helmut lässt nicht locker:

„Hinter dir! Rechts im Kühlfach.“

Nun bin ich jemand, der solche Umstände gerne zügig hinter sich bringt und nur deshalb das gekühlte Getränk nimmt, um einer Diskussion über das Für und Wider gefrorener Monster aus dem Weg zu gehen. Also drehe ich mich um und finde das Zeugs tatsächlich.

„Ach, da stand es gestern auch, stimmt“, sage ich und Helmut fingert in der Kasse herum.

„Kasse kaputt“, informiert er mich.

„Ach, immer noch? Gestern schon.“

„Ja, immer noch kaputt. … Nur die Dose?“

„Ja, nur die Dose.“

Die Dose „Monster Rehab Tea + Lemonade + Energy“ hat keine Kohlensäure, was mir das „non carbonated“ sagen will, das sie als Aufdruck ziert. Dachte anfangs immer, sie sei frei von carbs, was mir derzeit entgegenkäme, doch letztlich glaube ich, dass ich ohnehin jeden Tag eine andere Sorte erwische, da deren Namen alle irgendwie beliebig klingen und mich durcheinanderbringen. Für manche Dinge ist mein Geist völlig unempfänglich, während unwichtige Details plötzlich enorm Gewicht erhalten in meiner Gedankenwelt. Wie diese Tasse …

„Zweineunzig“, nennt er mir den Dosenpreis.

Ich zahle brav und frage mich, warum Preise in Kiosken immer so stark variieren, habe ich gestern noch zweisiebzig, vorgestern dreivierzig bezahlt. Behalte das aber für mich, um Diskussionen zu vermeiden, und starre auf seine Tasse, die er an seinen Mund ansetzt.

„Take it easy, Helmut!“ steht drauf und ich frage, da in unerwarteter Plaune (Plauderlaune):

„Du heißt ‚Helmut‘?“

Warum frage ich das? Weil ich ein Rassist, ein Faschist, ein Nazi, ein Monster bin. Er sieht halt irgendwie nicht aus wie ein Helmut, weder Schädelform noch Hautfarbe

BUUUUUUUUHHHHH!

Ich hielt ihn halt immer für einen Mitbürger aus einem fernen Land. Der unmöglich Helmut heißen kann. Und bitte Telefonhörer wieder auflegen, der Ausflug in die irre Schädellehre war ein Scherz. Anwalt ist informiert.

„Helmüt oder Helmut?“, frage ich und finde das humorig.

Und hier ist die Situation an ihrem Scheideweg: Findet Helmut es nicht lustig, würde ich den Kiosk aus Scham nie wieder aufsuchen. Ich weiß ja, wie humorlos manch einer in diesen politisch angestrengt korrekten Zeiten ist. Mich reizt es dann erst recht, diese Menschen zu provozieren.

Behinderte Lesbe im Rollstuhl steht an einer Ampel in Ostddeutschland und fährt zu einem Treffen der AfD.

Sowas beispielsweise. Völlig frei von Wertung, dennoch als Aufreger geeignet. Und ich habe nicht einmal erwähnt, dass sie schwarz ist! Was aber will sie dann bei der AfD?!

Verlassen wir dieses dünne Eis, obwohl wir doch alle so gleich sind, aber immer wieder Unterschiede mit desaströsen Folgen machen. Der Mensch wird sich niemals bessern. Gerade das müssen wir leider aus der Geschichte lernen. Doch bevor wir uns weiter mit Geschi (Reli fällt morgen übrigens aus, überlege, Erde dann auch noch blauzumachen …) befassen, zurück zu Helmut, der in die Tasse hineinlacht, weil er dem Helmüthelmutscherz etwas abgewinnen kann, womit wir eine gute Abzweigung an jenem Scheideweg nehmen.

Oder auch nicht, denn: „Höre ich zum ersten Mal“, sagt er zwinkernd, wobei seine langen Wimpern an den Tassenrand schlagen, was ich trotz Hörsturzes und Tinnitus‘ höre, aber nicht weiter thematisiere.

„Die Tasse habe ich von meiner Schwester bekommen.“

Seine Schwester kenne ich, denn sie sitzt in den Vormittagsstunden in dem Büdchen. Anders als Helmut mag sie mich nicht. Es rührt von einer Episode, als ich im Hochsommer schweißnass den Kiosk betrat und auf die „Yogurette“ tropfte. Das fand sie nicht ganz zu Unrecht unappetitlich und verwies mich des Ladens, nicht ohne mir vorher ein Tuch zu geben, mit dem ich mir dann über die Stirn wischte.

„Du solltest die Schokoladen damit abwischen, nicht dein Stirn!“

Tja, ich hatte gedacht, sie wollte nur nett sein. Ich kaufte dann die betroffene Tafel und schenkte sie meiner Mitbewohnerin: „Da, könnte nach mir schmecken!“

Helmut! Zurück zu Helmut! Also, er an der Tasse, die an sich schon leer sein müsste, sagend:

„Hatte eine schwere Cait. Da schenkte sie mir die Tasse.“

„Ist wertvoll. Sehe da eine ‚Diddl-Maus‘ drauf, gibt’s nicht mehr.“

„Ach?“

„Ja. Gibt’s nicht mehr. Ausgediddelt.“

Nun muss ich leider dazusagen, dass es diese Unart von Nager seit vergangenem Jahr durchaus wieder gibt. Ich wusste es nur bis gerade nicht. Ich werde es Helmut morgen berichten.

„Willst du sie haben?“

„Die Tasse?“

Was zur Hölle soll ich mit Helmuts Tasse?! Denkt er jetzt, ich sei Diddl-Fan?!

„Ist mir zu exomarginal“, sage ich und hoffe, es hat sich damit erledigt. Doch Helmut missversteht mich und reicht mir die Tasse.

„Hier, gehört dir!“

Um auch hier eine weitere Diskussion zu umschiffen, nehme ich die Tasse dankend an und hoffe, Helmuts Schwester hat nichts dagegen. Auf keinen Fall jedoch werde ich jemals diesen Kiosk mit dieser Tasse betreten, was ich aber ohnehin für sehr unwahrscheinlich halte.

Und nun saß ich heute „auf meiner Arbeitsstelle“, denn man setzt sich ja immer drauf, und trinke aus der „Take it easy, Helmut!“-Tasse und bereue eines sehr schwer:

Da ich mich von der Diddl-Maus habe ablenken lassen, habe ich versäumt zu fragen, welche schwere Zeit Helmut hat durchleben müssen. Das war versehentliche Unhöflichkeit als Deckmantel meiner Soziodoofheit, die mir tatsächlich gerade sehr leidtut, sodass ich jetzt schon weiß, dass ich mich morgen nach Helmuts Befinden erkundigen werde.

Ausgerechnet jetzt, wo die Ferne an mir zerrt, freunde ich mich mit meinem Kioskmann an. Es ist eine verrückte Welt, in der wir leben und sterben.