Es ist seltsam. Mitunter habe ich im ICE nach Düsseldorf oder von Düsseldorf weg Sitznachbarn, die ohne Not Bestandteil meiner „intimen Zone“ werden. Und ich meine nicht schwerleibige Menschen mit Körperausmaßen, die über die ihnen von der Deutschen Bahn zugestandenen Sitzfläche hinausgingen. Der gerade neben mir sitzende Herr, etwas älter als ich, hält den gebotenen Abstand, ja selbst die Armlehne überlässt er mir. Seit geraumer Zeit nämlich fällt mir auf, dass ich nie die Armlehne benutzen kann! Bin ich nicht forsch genug? Ich neige eher dazu, sie mir nicht krampf- und kampfhaft zu erkämpfen und meiner Freundin Sabrina USA geht, sofern sie diese Cailen liest, in diesem Moment der Begriff des pleasers nicht ganz zu Unrecht durch den Kopf.

Während ich Zug fahre, fliegt sie in diesen Stunden. Ich bin mir relativ sicher, sie würde in diesem Moment das Verkehrsmittel mit mir tauschen wollen. Ich aber nicht, ich fliege genau so gerne wie sie. Wobei, als Gentleman sollte man auf den Tauschhandel eingehen. Also: Beim nächsten Mal tauschen wir.

Sie sitzt übrigens gerade am Gang, ich sitze am Fenster. Von der Aussicht habe ich nichts, da es dunkel draußen ist. Oder draußen dunkel. Mir geht es eher um die bessere Schlafposition, sollte ich Müdigkeit anheim fallen.

Ein bisschen mehr Abgebrühtheit würde mir nicht nur in Sachen Armlehne gut anstehen, auch in anderen Dingen. Die Abwesenheit von Kaltblütigkeit, einer gewissen Dreistigkeit, ist nicht zwangsläufig eine gute Eigenschaft: Man zieht im Zweifel immer den Kürzeren und steht irgendwann vor der Frage, was einem das abgesehen von eventueller moralischer Überlegenheit bringt. Es wird ausgenutzt; mitunter kratzt es an der eigenen Würde.

Nicht selten habe ich Platznachbarn, die mir derart auf die Pelle rücken, dass sie bei mir mitlesen, während ich mich an das Fenster presse. Allerdings stelle ich exakt in diesem Moment fest, dass der nicht unsympathische Herr neben mir ebenfalls mitliest, während er am Handy einem Gespräch lauscht, bei dem er wirklich nur Zuhörer ist. Meine mir so wichtige Intimität wird also auf eine harte Probe gestellt, dabei soll es in diesem Text genau darum gehen: um das Eindringen in Intimitäten.

Denn es gibt kaum einen besseren Ort, Menschen zu beobachten, als einen Bahnhof. Und nun kommt der Satz, den ich bereits am Bahnsteig wartend im Kopf vorformuliert habe:

An Bahnhöfen treffen sich Menschen nahezu aller sozialen Schichten: Vom Gesocks über solche, die um einen Euro bitten, bis hin zu denen, die sich die Fahrt in der Ersten Klasse vom Arbeitgeber bezahlen lassen.

Diesen Satz aber habe ich verworfen. Denn: Die Überraschung, dass der Begriff „Gesocks“ gefolgt wird von der Gruppe Menschen, die manche als Gesocks bezeichnen würden, und damit dieser eine ganz andere Gruppe beschreiben muss, die der Autor gar nicht näher spezifiziert, würde vermutlich von den meisten überlesen. Womöglich würde man fälschlicherweise mir unterstellen, ich würde bedürftige Menschen als Gesocks bezeichnen, was mir dank gesunden Menschenverstandes fernliegt. Darum also verzichte ich auf den Satz.

Aber es stimmt ja, an Bahnhöfen treffen alle zwangsläufig zusammen. Sich eine Stunde lang in die Bahnhofshalle zu setzen und einfach nur zu gucken, gibt viel Stoff her.

Nun sitze ich jedoch nicht im Bahnhof, sondern in einem Zug zwischen zwei Bahnhöfen, aber auch in einem Zug, jeder wird es kennen, gibt es immer wieder interessante Menschen zu beobachten. Und „interessant“ muss nicht immer positiv gemeint sein.

Seit sieben Monaten etwa pendele ich zweimal die Woche zwischen Düsseldorf und Berlin, macht also grob 56 Fahrten. 56 mal vier Stunden Fahrzeit, also 224 Stunden, die sich aus neun komma periode drei Tagen zusammensetzen: Zeit genug also, schon so einiges gesehen zu haben, während ich natürlich auch durchaus mal selbst Subjekt einer Sozialstudie gewesen sein könnte: Der Typ, der so nervös auf seinem Laptop rumklimpert und gelegentlich schmunzelt. Dass dieser Typ über seine eigenen Texte schmunzelt, weiß ja niemand. Muss auch nicht. Wirkt unsympathisch.

Ganz durch ist bei mir der Typ Bahnfahrer, der besonders laut telefoniert. Ich selbst vermeide das Telefonieren in der Bahn komplett, da ich weiß, dass das keiner der Mitreisenden hören will. Und meine Telefonate sind meist auch intimer Natur (hier wieder der Begriff der Intimität), dass ich keine Zuhörer, von dem am anderen Ende der Leitung abgesehen, brauche.

Natürlich gibt es Ruhe-Waggons in jedem ICE, in dem das Telefonieren verboten ist. Aber ich habe nichts gegen das Telefonieren in normaler Lautstärke, mich nervt das betont laute, wo ich ahne, dass es dem Telefonierenden gefällt, dass alle ihn hören können. Sowas erkennt man daran, dass er versucht, besonders witzig zu sein. So placiert er in sein Telefonat einige Gags, deren Adressat nur vordergründig sein Gesprächsteilnehmer ist, tatsächlich aber will er, dass jeder Mitreisende mitbekommt, was für ein humoriger Kerl er ist und es doch toll sein muss, ihn zu kennen. Besonders leicht verrät er sich durch sein aufgesetztes und überzogenes Lachen, wenn er wiederum etwas lustig findet, was nur für ihn zu hören war. Das gibt ihm etwas Exklusives, denn nur er weiß, was gerade so lustig ist.

Grundsätzlich ist der Laptop in Zügen weit verbreitet. Schräg vor mir sitzt eine Dame, die offenbar ein Online-Spiel zu spielen versucht. Ich kann nur Teile ihres Bildschirmes sehen, wenn ich durch die Sitze durchluge und damit das tue, was ich eben noch anderen vorgeworfen habe. Doch ich verfolge ja gerade ein höheres Ziel, ich sozialstudiere. Nun hat die Dame ein Problem mit dem W-Lan hier im Zug. Klar, dass das extrem gedrosselt ist, ist nichts Neues. Sie hingegen scheint nicht genau zu wissen, wie man sich mit dem Zug-Wifi verbindet. Denn auch wenn die Eingabe eines Passwortes, eines WPA-Schlüssels also, nicht nötig ist,

Mundgabel (Insider)

bedarf es dennoch einer Anmeldung. Wer das übersieht, kommt nicht ins Netz.

Meinem Sitznachbarn, der inzwischen nicht mehr telefoniert, ist genau das in diesem Moment gelungen. Weil auch ich spanne, sah ich eben noch, wie er darauf wartete, dass ein Film irgendeiner mir unbekannten Online-Videothek startet. Selbst wenn er sich nun endlich erfolgreich eingewählt hat, wird der Film nicht laufen, zu gering die Bandbreite. Vielleicht ist er deshalb nun auf einen Online-Zeitschriftenkiosk umgeschwenkt. Nein, jetzt stürzt sein Rechner ab. Armer Kerl, nichts will ihm gelingen.

Die Dame vor mir, eben noch das Online-Spiel verfolgend, liest nun ebenfalls auf ihrem Rechner, es sieht nach Fachliteratur aus. Das beobachte ich am häufigsten. Denn es liegt auch nahe, dass die Menschen sich hier mit ihrer Erwerbsarbeit beschäftigen, da ich freilich nicht der einzige Pendler hier bin. Viele ackern irgendwelche Präsentationen durch, manch einer liest geschäftliche E-Mails.

Jetzt schnauft er neben mir auf. Sein Rechner ist wieder hochgefahren, aber offenbar reagiert dieser nicht auf Tastendruck. Immerhin hat er einen touchscreen, den er gerade ausgiebig nutzt. Er verharrt in keinem der geöffneten Fenster, er toucht wild herum und nun! aha! er hat die Bildschirmtastatur gefunden! Geht ja auch, nur eben nicht so gut. Er nutzt einen „Apple“-Laptop. Selbst schuld.

Nun meldet sich via „Whatsapp“ mein Vater. Oder meine Mutter. Ich weiß das nie so genau, da beide dasselbe Smartphone nutzen. Enthalten ihre Nachrichten besonders viele Tippfehler oder Fehlinterpretationen durch die Worterkennung, kann ich davon ausgehen, dass mein Vater schreibt. Er hat die dickeren Finger und die Treffsicherheit nimmt ganz allgemein im Alter ab, was man auch auf Herren-Toiletten beobachten kann. Ich sitze übrigens im Glashaus. Und das im Wortsinne, da ich Sitzpinkler bin. Ich setze mich allein deshalb schon oft hin, um ein bisschen auszuruhen.

Es scheint mein Vater zu sein, der da schreibt. Karin Dor sei verstorben, schreibt er unter anderem. Ich weiß das bereits dank unzähliger push-Nachrichten, weiß aber nicht, wer Karin Dor ist. Ich googele sie also kurz vor Wolfsburg und hoffe dann, dass Karin Dor ein erfülltes Leben hatte. Ein Jammer für sie, mich nie kennengelernt zu haben.

Es ist kurz vor sieben, Sabrina landet um halb neun. Sie hat Angst abzustürzen, diese Angst teile ich mit ihr. Ich kann ihr daher auch immer schlecht Mut zureden, da die Gefahr abzustürzen ja durchaus real ist.

Sie fragte mich heute Morgen, ob ich Stewardessen attraktiv fände. Sie bezog sich auf die Uniformen und ich auf die Tatsache, dass Flugbegleiterinnen meist stark geschminkt sind. Wir fragten uns nach dem Warum und ich vermutete, dass sie das tun, damit man ihre nervöse Mimik nicht sieht, wenn ein Triebwerk außer der Reihe rattert. Ob Sabrina in diesen Stunden versucht, durch das Make-up hindurchzugucken, um sich von der Flugtüchtigkeit des Fliegers zu überzeugen? Drücken wir ihr die Daumen, dass genügend Abstand zwischen Flugzeug und Erdboden besteht. Nimmt der rapide ab, handelt es sich hoffentlich um die planmäßige Landung.

So, wen könnte ich denn nun beobachten? Die Dame vor mir (Online-Spiel, Fachliteratur) spielt wieder und entpuppt sich als Mann. Sehe ich ja nicht so genau. Und angesichts des dritten Geschlechtes, das bald hoffentlich anerkannt wird, ist das eigentlich auch egal.

Schräg rechts von mir erspähe ich einen Mann, dem ich das Attribut „Schönling“ aufdrücken möchte. Natürlich ist das ein Vorurteil, ich kenne ihn ja nicht. Aber dem Menschen ist es nun einmal inne, dass sein Gehirn anhand von Vorurteilen einordnet. Er sollte sich dessen nur bewusst sein. Mein Schönling hat eine perfekt sitzende Frisur, dank Gels, die aber alles andere als wider die Konventionen ist, sondern nach Bank, nach Sparkasse, aussieht. Wer hier nun eine Wertung herausliest, hat sie de facto nicht heraus-, sondern hineingelesen. Der Leser projiziert seine Vorurteile auf den Autoren.

Schorsch Schönling, vermutlich 30, vielleicht 33 Jahre alt, trägt ein braunes Jacket und eine Harry-Potter-Brille. Bartwuchs hat er nicht, was ich für ihn bedaure, aber vielleicht ist ihm das ja durchaus recht. Seine Armbanduhr ist ein sehr klassisches Modell, ein eher schlichtes. Könnte teuer gewesen sein. Macht ihn mir wieder sympathisch, da ich an Uhren zwei Dinge schätze:

Armbanduhren müssen analog sein und: teuer. Wenn sie mir gefallen sollen. Verfügte ich über die entsprechende Kaufkraft, ich würde mir nota bene eine Uhr für tausende von Euro an den Arm binden. Nicht etwa, um zu zeigen, seht, wie reich ich bin!, sondern um ein statement in die Welt zu setzen, um meine Vorliebe für Wertigkeit, für Qualität, für Genauigkeit und vor allem Stil zu leben. Nicht zu demonstrieren; zu leben!

Seine Uhr hat ein weißes Ziffernblatt. Wieder punktet Schorsch bei mir, da ich ausschließlich Uhren weißen Ziffernblattes trage; auch das eine Geschmacksfrage. Wenn ich mir wieder mal eine neue Uhr gegönnt habe, starre ich in den ersten Tagen minutenlang auf diese und erfreue mich der filigranen Unruh.

Jetzt isser eingenickt. Ruhe Sanft, kleiner Räuber … Ich mag ihn irgendwie. Dabei dachte ich im ersten Moment: Was für ein unsympathischer Schönling. Er ist wieder wach. Sekundenschlaf offenbar. Er nimmt einen Schluck seiner „Coca Cola“. Standard, kein zuckerfrei oder so. Mit Koffein. Meine hochnäsige Einschätzung: Eine koffeinhaltige Limonade ist für ihn bereits der Ausbruch aus allen Konventionen. Ich wette, er trinkt sie nur, um es seiner Mutter heimzuzahlen. Und schon ist er wieder bei mir unten durch, ein Stereotyp folgt dem anderen. Und genau das macht ja so viel Spaß am Beobachten von Leuten: Man kann sie anreichern mit den eigenen Vorurteilen. Ich wette, er ist noch Jungfrau. Muss einfach so sein. Plötzlich habe ich Mitleid. Womit ich mich noch höherstelle, noch weiter über ihn positioniere und fast vergesse, dass es ein unfassbar guter und sympathischer Mensch sein könnte. Wie schlecht ich mich nun fühle! Ich würde am liebsten aufstehen und mich bei ihm entschuldigen. Nein, doch nicht. Jetzt guckt er völlig vergessen. Ihm entgleiten seine Gesichtszüge. Würde ihm am liebsten eine verpassen. Vor allem beobachtet er gerade die Frau mit dem Online-Spiel, die eigentlich ein Mann ist. So etwas tut man nicht, den Leuten auf den Bildschirm starren! Was für ein unsympathischer Schönling mit Angeber-Uhr!

Ich sollte ihn mit meinem Taschenmesser erschießen. Denn ich habe mir vor einiger Zeit ein Taschenmesser gekauft. Meine Mitbewohnerin fragte mich, wozu ich das denn brauche.

„Ein Mann sollte immer etwas Werkzeug bei sich tragen. Falls wir uns mal im Wald verirren. Könnte dann einen Speer schnitzen und damit Kaninchen jagen, töten und zubereiten.“

„Dir geht es vermutlich eher um den Korkenzieher, der dabei ist?“

„Ja, gut, das ist natürlich ein toller Zusatznutzen!“

Als Kind wollte ich immer ein Taschenmesser, bekam aber keines. Weil ich damals dazu neigte, alles umzubringen, was meinen Weg kreuzte. Wer erinnert sich nicht an die Schlagzeile „Der Schlächter von Münster: ER IST NOCH EIN KIND!“. Meine Eltern wollten diese Tendenz nicht unnötig befeuern. Darum war der Kauf eines Taschenmessers, eines Schweizer!, nun die Erfüllung eines kleinen Kindheitstraumes und natürlich wusste auch ich, dass ich es nie benutzen würde. Trage es aber auch beim Laufen immer bei mir, um nun endlich gewappnet zu sein, sollte wieder mal ein Hund auf mich losgehen.

„Er wollte doch nur spielen!“

„Und ich wollte nur morden!“

Doch vor ein, zwei Wochen geriet ich plötzlich und ohne Scheiß in eine Situation, wo ich froh war, dieses Messer bei mir zu tragen! Genussvoll habe ich es meiner Mitbewohnerin unter die Nase gerieben. Den Umstand, nicht das Messer.

„Ich habe es gebrauchen können!!!!!!“, schrieb ich ihr aufgeregt via Facebook.

„Wozu?“

„Ich musste ein Paket öffnen!“

Darüber hinaus ist das Beste an diesem Messer der integrierte Zahnstocher. Ich trage eine Krone auf einem Implantat. Dort verfängt sich gerne die ein oder andere Mahlzeit, was ein nicht enden wollendes Zungennesteln nach sich zieht, wenn kein Zahnstocher oder keine Zahnseide greifbar. Nun endlich habe ich dank meines Schweizer Taschenmessers stets einen Zahnstocher bei mir! Also, wenn das nicht männlich ist?!

Während mein Sitznachbar gerade über „SAP-Workflow Kreditoren“ liest, was auch immer das ist, lese ich das nun Geschriebene korrektur und widme mich dann einer „Amazon-Prime“-Serie. „Startup“ mit Martin Freeman. Ziemlich sehenswert.


Intime Einblicke in mein Leben gewähre ich kontrolliert und verfälscht auf Instagram und Facebook.