Perspektivenwechsel. Ganz wichtig. Jeder kennt das ja, wenn man einen Um- oder gar Missstand mittels eines Wechsels der Betrachtungsweise umdeuten kann. Mir ist es jüngst sogar gelungen, durch eine Umgewichtung der Umstände etwas eigentlich nicht so Tolles ins Positive zu rücken. Seitdem lebt es sich deutlich besser. Ich sah nicht mehr nur das Negative, sondern auch das Positive, das erst aus dem Negativen heraus entstehen konnte; der Saldo, der muss allerdings am Ende positiv sein. Und das muss sich noch zeigen.

Auch  in diesem Moment muss mir das irgendwie gelingen. Aus diesem Grunde halte ich mich nun in Bodennähe auf. Da ich es nicht genau nachmessen kann, muss ich auf eine Schätzung zurückgreifen und würde behaupten, dass mein Kopf sich etwa 80 Zentimeter über der Erde befindet – einen ganzen Meter niedriger als gewöhnlich.

Noch fällt es mir unbeschreiblich schwer, der neuen Perspektive etwas abzugewinnen. Es ist zwar mal etwas Neues, etwas Aufregendes abseits des alltäglichen Trotts, doch die Welt ist für die gemacht, deren Blickfeld oberhalb von vielleicht einem Meter und 60 beginnt. Auf 80 Zentimeter sehe ich gerade im Grunde nichts, was meinen Intellekt besonders herausfordern würde. Ich bin sogar unangenehm überrascht davon, dass auf etwaiger Höhe meiner sonst Körpermitte sich so wenig tut. Das allerdings kann auch Folge einer vorauseilenden Ablehnung der neuen Situation sein. Ich bin nicht offen genug! Ja, ich habe sogar Angst, dass ich einen Meter höher etwas verpasse! Ein vertrautes Gefühl: als würde gerade irgendwo eine Party stattfinden, deren Gastgeber alles unternommen hat, um mich nicht einladen zu müssen. Ich sitze dann also Zuhause und weiß, dass gerade viele andere Menschen enormen Spaß haben. Ich habe das durchaus schon einmal erlebt. Hatte in dem Fall aber das große Glück, dass ich gehofft hatte, nicht eingeladen zu werden, da ich auf keinen Fall auf der Party meiner Nachbarin Rudine, treue Leser kennen sie, auftauchen wollte! Eher hätte ich mich im Rhein erhängt!

Die Höhe von 80 Zentimetern ist jetzt also erst einmal mein Zuhause, abseits der Party einen Meter höher …

Natürlich gibt es Fenster da, wo ich gerade bin. Ich weiß das, weil ich ihre unteren Gummidichtungen sehen kann. Oberhalb derer befindet sich sehr wahrscheinlich eine Glasscheibe, die den Blick zur Party freigibt. Aber ich bin da ja nicht eingeladen, ich bin unten.

Es ist langweilig. Von wegen, mal alles aus einem anderen Blickwinkel betrachten, ist ’ne tolle Erfahrung! Was war so schlecht am alten Blickwinkel?! Warum muss denn immer alles neu und anders sein?! Warum kann sich der zeitgenössische Mensch nicht mal für einen Moment mit dem Erreichten zufrieden geben?!

Weil er sich ständig misst. Mit anderen. Studien haben gezeigt, dass wir dazu neigen, uns immer nur mit denen zu vergleichen, denen es „besser“ geht. Auf diese Weise stehen wir per se schlechter da, was sich für uns dann auch so anfühlt. Ich wäre nämlich jetzt gerne auf meiner angestammten Höhe von einem Meter 80! Ich denke gar nicht daran, mich mit denen auf 20 Zentimetern zu vergleichen. Das habe ich offenbar gar nicht nötig, ist mein Eindruck, angewidert von mir selbst. Die sozialen Medien, allen voran Facebook, verstärken diesen Effekt des sich mit anderen Messens. So entsteht eine Spirale der Hysterie, aus der ich auszubrechen versuche. Und vielleicht muss ich nur Geduld haben, um hier auf 80 Zentimetern wertvolle und erfüllende Erfahrungen machen zu können.

Und siehe da, ich komme ins Gespräch. An dieser Stelle lacht der Autor auf, denn auf einem Meter 80 kommt er nie ins Gespräch – er sucht es auch nicht.

„Zum ersten Mal hier, was?“, fragt mich ein Mann, der mir dabei musternd in die Augen sieht, woran ich erkenne, dass auch er auf meiner Höhe ist.

„Äh, ja. Perspektivenwechsel. Wollte mal was anderes probieren“, erkläre ich ihm.

„Lassen Sie mich raten: Das ist nur die second best-Lösung, dass Sie sich auf dieser niedrigen Höhe befinden?!“, er schelmisch. Und er liegt ja nicht so falsch damit. Denn ein Beharren auf meiner Standard-Höhe hätte heute viele Nachteile für mich bedeutet, sodass ich Prioritäten gesetzt habe.

„Nun, also wäre ich auf einsachtzig geblieben, ich hätte ein anderes Ziel nicht erreicht. Darum nahm ich sie in Kauf, diese niedrige Höhe. Um eben mein höheres Ziel zu erreichen. Sie haben also Recht.“

„Dachte ich mir. Macht keiner freiwillig. Das ist der Mensch nicht mehr gewohnt. Wer einmal aufrecht geht, der bückt sich nicht mehr. Ich bin Tank“, stellt er sich mir  vor, wobei Tank sich englisch spricht, also Tänk.

Ich muss schmunzeln.

„Warum lachen Sie?“, fragt Tank mich.

„Weil ich einen Hund kenne, der so heißt. Also, was heißt kennen, ich weiß von ihm, dass er lieber Basketball im Fernsehen guckt als sich mit Brexit-Anhängern zu unterhalten.“

Tank sieht mich ratlos an, was ich verstehen kann. Denn für ihn kann das unmöglich Sinn ergeben, doch bin ich der Meinung, dass das auf dieser Höhe keine Rolle spielen darf. Ich meine, wann, wenn nicht jetzt auf 80 Zentimetern, darf man sonst mal im Ungefähren bleiben?! Er hat ja gefragt, warum ich schmunzele, nicht mein Problem, wenn er mit der wahren Antwort nichts anfangen kann.

„Verstehe“, sagt er, was ich ihm nicht glaube. Aber vermutlich spielt das auch gar keine Rolle. Vielleicht denkt er wie ich.

„Es ist kalt hier, oder? Also kälter als oben“, wechsle ich das Thema.

„Ja, das ist ein ganz großer Nachteil. Man gewöhnt sich aber daran.“

„Sind Sie schon länger hier unten?“

„Ja. Und ich bleibe hier auch. Es hat Vorteile. Man spielt im großen Ganzen nicht mehr eine so tragende Rolle. Man ist zwar auch kein Zahnrad mehr, kann aber auch nicht mehr zwischen diese geraten.“

So habe ich das noch gar nicht gesehen. Ist vielleicht genau das der von mir erhoffte Perspektivenwechsel? Und wenn ja, ist er gut? Denn:

„Haben Sie sich nicht einmal überlegt, ob Sie sich nicht dadurch aus Ihrer Verantwortung gestohlen haben?“, frage ich ihn.

„Das hat mich hier unten noch niemand gefragt. Das ist eine typische Oben-Frage! Warten Sie noch ein bisschen ab, dann fragen Sie das gar nicht mehr. Muss eh jeder für sich wissen. Sie haben doch auch Prioritäten gesetzt. Wie heißen Sie eigentlich?“

„Achso, pardon, gar nicht vorgestellt … Seppo.“

„Beppo?!“

Immer dasselbe Spiel. Die Leute finden es wahnsinnig lustig, mich erst einmal „Beppo“ zu nennen. Die Oma meiner Mitbewohnerin hat das jahrelang durchgehalten – mit dem Unterschied, dass sie auch tatsächlich geglaubt hat, das sei mein Name. Ich hatte den Moment verpasst, diesen sehr wertvollen Moment!, es aufzzuklären, bis es meine Mitbewohnerin dann nach einigen Jahren tat.

„Seppo! Mit S!“, sage ich Tank.

„Ach, Seppo! Komischer Name. Finnisch?“

„Ja. Aber es ist auch nur … also es ist nicht mein richtiger Name.“

Ich hoffe, er fragt nicht weiter, da es mich immer nervt zu erklären, dass Seppo die Kurzform von Sebastian ist.

„Kurzform von ‚Sebastian‘, nehme ich an“, sagt Tank.

Oha, er überrascht mich und will wissen, wie lange ich die neue Höhe testen will.

„Vermutlich bis Hannover. Da sollte dann ein Sitzplatz freiwerden.“