It is ten o’pietclocke am Samstagmorgen. Eigentlich erwarten meine Mitbewohnerin und ich leider Herrn Schontermann, der aber offenbar auf sich warten lässt.

„Vielleicht haben wir Glück und er kommt nicht“, sage ich zu meiner Mitbewohnerin.

„Wart’s ab, wenn er halb elf nicht da ist, können wir vielleicht durchatmen“, sagt sie und ich schlage vor, dass wir zu unserem Schlafzimmerfenster gehen, um auf die Straße blicken zu können, „Dann sehen wir ihn kommen. Oder eben nicht-kommen.“

„Kann man jemanden nicht kommen sehen?“, meine Mitbewohnerin.

„Hm, also wenn man nicht sieht, wie jemand kommt, sieht man ihn nicht kommen. In unserem Fall aber müsste man es mit Bindestrich schreiben. Man sieht jemanden nicht-kommen, also man sieht, wie jemand nicht kommt.“

„Denkst du etwa darüber nach, das jetzt irgendwann zu verbloggen?!“, fragt mich die Liebe meines Lebens.

„Nein, also das wäre selbst für das seppolog etwas zu belanglos!“

„Naja, deshalb kam ich drauf …“

Wir stehen vor dem Fenster, unsere Ellbogen auf dem Fensterbrett und unsere Köpfe in unsere Hände abgestützt. Mein Kopf in ihren Händen und umgekehrt. Sieht ein bisschen komisch aus, aber als Paar macht man ja alles irgendwie zusammen. Wir sind so ein albernes Fremdschämpaar. Nein, sind wir eben nicht. Fand die Vorstellung gerade nur so humorig, aber ich lege Wert darauf, dass wir genau das nicht sind. Wir sind eher so ein zum-Kotzen-Fitness-Pärchen. Das wissen wir, werden aber deshalb nicht dem Sport entsagen.

„Er kommt nicht“, prophezeie ich.

„Es ist jetzt zehn nach. Ist er sonst immer pünktlich?“

„Ich weiß nicht, bislang kam ich ja immer zu ihm!“

„Was will er denn von dir? Was ist er überhaupt?!“

„Ich hab keine Ahnung. Er kommt nie zum Punkt. Vielleicht ist er ein Außerirdischer. Das wäre übrigens was Neues. Hatte ich bislang noch nie. Kannst du das mal eben für mich aufschreiben? Für den Blog. Seppo wird von Außerirdischen heimgesucht.“

„Du hattest schon mal Mondnazis.“

„Stimmt. Schade. Übrigens war das lange vor dem Film ‚Iron Sky‘. Sie haben einfach meine Geschichte verfilmt!“

Während wir so vor uns hin sinnieren, fällt völlig unerwartet unsere Nachbarin Rudine, die zwei Stockgewerke über uns wohnt, am Fenster vorbei.

„Huch“, sagt meine Mitbewohnerin.

„Hm?“

„Ja, hast du nicht gesehen?“

„Achso, doch. Du meinst Rudine?“

„JA!“

„Sie ist offenbar aus dem Fenster gefallen.“

„Wir müssen einen Notarzt rufen!“

„Das halte ich für aktionistisch. Geben wir ihr einen Moment“, ich relativ gelangweilt von dem Ereignis. Ich kenne Rudine seit einigen (schlimmen) Jahren. Sie gehört zu der Sorte Frau, die es irgendwie immer wieder hinbekommt, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich weiß bei solchen Damen nie, wie bewusst sie das tun. Wissen sie um ihre Aura? Setzen sie sie bewusst ein?

„Ich gehe da jetzt runter“, lässt meine Mitbewohnerin nicht locker.

„Ach, Rudine will doch nur wieder Aufmerksamkeit um jeden Preis. Da, guck, da kommen schon Leute angerannt. Sie schafft es jedes Mal, sich in den Mittelpunkt zu dengeln! Ach, und wen sehe ich da?!“

Ja, wen sehe ich da? Ich sehe Lungobart. Lungobart ist ein, sagen wir mal, Bekannter von mir, denn „Freund“ wäre vielleicht zu viel; so ehrlich muss ich sein. Lungobart stürzt auf etwas zu, das unter unserem Fenster liegt: auf Rudine.

„Jetzt wird’s interessant!“, rufe ich meiner aus der Wohnung stürmenden Mitbewohnerin zu und krame mein Handy aus der Tasche. Denn da Rudine sich nicht zu bewegen scheint, tippe ich auf Tod und die Handytasten. Das sind freilich keine haptischen Tasten, denn dings, ähm, wie heißt es, touch-Gedöns-Display natürlich. Ich wähle die „661“ und höre ein Amt. Sage dann: „Oh, pardon, verwählt.“ Wähle ein weiteres Mal, jetzt die „110“.

„Flotho, mein Name. Unsere Nachbarin ist gerade unglücklich aus dem Fenster gefallen. Vierter Stock. Oder fünfter. Ich weiß nie, wo Stock anfängt. Also zum Beispiel weiß ich nie, ob das Erdgeschoss schon die erste Etage ist, oder die erste Etage der zweite Stock. Verstehen Sie? Wenn ich bei ‚pizza.de‘ angeben muss, in welche Etage der Pizzalieferant kommen muss, weiß ich nie, was ich da eintragen soll, da ich-“

„Verzeihung, das scheint ein Fall für einen Notarzt zu sein, Sie haben die Polizei angerufen, aber wir leiten das weiter. Wo sind Sie?“

„Ich bin im Schlafzimmer. Und das Weiterleiten ist sehr nett von Ihnen, ich kann aber auch gerne den Notarzt selber anrufen. Habe aber seine Nummer nicht.“

„WO SIND SIE? Und der Notarzt ist die ‚112‘.“

„Nein, nein, das ist die Feuerwehr! Hier brennt aber nichts!“

„Wie dem auch sei, Sie müssen mir nun sagen, wo Sie sind.“

„Wie gesagt, ich stehe im Schlafzimmer und gucke auf den Bürgersteig. Ich sehe eine Menschentraube. Strenggenommen könnte ich gar nicht mehr sagen, ob meine Nachbarin da noch liegt. Wegen der Traube.“

„WO-SIND-SIE? Straße, Hausnummer!“

„Achsoooo, nun, jetzt dreht sich alles um meine Nachbarin. Das macht sie immer! Jetzt müssen ihr wieder alle helfen! Und dann wird sie sagen ‚Ihr habt was gut bei mir!‘ Wie oft ich das schon gehört habe, diesen Satz ‚Seppo, du hast was gut bei mir‘! Kann man bei ihr nie einlösen. Wissen Sie, mir wird immer unterstellt, ich drünge mich in den Vordergrund. Aber dieselben Leute, die das sagen, werfen mir auch meine Unscheinbarkeit vor. Geht irgendwie nicht zusammen, oder?!“

„WO SIND SIE?!“

„Jetzt im Flur. Sie weiß vor allem ganz genau, wie sie die Männer kriegt. Ist gerade vielleicht ein ungünstiger Moment, zu sagen, miese Schlampe-“

„SEHR UNGÜNSTIG!“

„Nein, ich meine wegen der U2-Debatte.“

„U2?!“

„Achso, nein, Metoo. Mag sein, dass Männer alles schwanzgesteuerte Idioten sind, aber dann ist Rudine eben auch eine Schla-, ach, Sie werden lachen, aber da kommt gerade mit Tatüütataa ein Krankenwagen!“

„Wir haben Ihr Handy geortet, Herr äh …“

„Flotho. Sie können also sehen, dass ich wieder im Schlafzimmer stehe? Sagte ich doch! Ah, ich sehe gerade, meine Nachbarin steht. Sie ist nicht tot! Entwarnung!“

„Herr Flotho, Sie werden mit absoluter Sicherheit von uns hören.“

Mein telefonisches Gegenüber legt seinen Hörer in die dazugehörige oder eine völlig andere (Mund-)gabel und verlässt auf diese ungewöhnliche Weise den Chatroom. Mich belustigt dieser Gedanke und so gehe ich gut gelaunt nun ebenfalls nach unten vors Haus. Es war mir ja eh die ganze Zeit klar, dass Rudine hier nur wieder die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich ziehen möchte.

Als ich unten ankomme, ist von der Menschentraube nicht mehr viel übrig. Auf der anderen Straßenseite stehen noch ein paar Schaulustige, die Handyvideos drehen. Ich nutze die Chance, um mich zu präsentieren, denn vor der Kamera bin ich ja ein völlig anderer Mensch. Und während ich mein neues TV-Format „Seppo und Co.“ improvisiere, höre ich von hinten ein lautes Rufen. Es ist das typische Rudine-Rufen.

„SEPPPOOOOOOO!“

Ich drehe mich um, kündige eine Werbeunterbrechung an und gehe nun doch zu Rudine, die in Lungobarts Armen gestützt ist. Lungobart blickt sehr besorgt drein. Aber er kümmert sich zweifelsfrei und dankt mir.

„Wofür?“, frage ich.

„Na, für’s Rufen des Notarztes.“

„Achso, das war ich nicht.“

„Warst du nicht?“, fragt meine Mitbewohnerin.

„Nein, ich rief durch ein Missgeschick die Polizei an. Hab ich schon die große Vorgeschichte von diesem Düsseldorfer Fenstersturz verpasst? Ich meine, dass du, Rudine, dich gerne weit aus dem Fenster lehnst, ist ja bekannt.“

Leider kommen meine heiteren Sprüche, die ich mit einem aggressiven Unterton anbringe, bei den anderen nicht so gut an wie bei meinem Ego, das sich auf die Schenkel klopft.

„Seppoooo! Ich bin gerade aus dem Fenster gestürzt!“, Rudine laut und erbost und sehr laut, wirklich sehr, sehr laut. Einer der Sanitäter fragt seinen Kollegen:

„Haben wir das Martinshorn eigentlich abgestellt?“

Sein Kollege: „Man kann es ja nicht hören, weil die Patientin so dermaßen laut ruft!“

„Da hilft nur Vollnarkose!“, schlage ich vor und lüge dazu: „Ich bin ein Kollege von Ihnen. Also ich bin Arzt. Doktor Flotho. Mein Arztsein erkennen Sie an meinem unbekümmerten Blick trotz der Blutlache. Die Patientin muss umgehend vollnarkotisiert und abtransportiert werden.“

„Hmmm“, überlegt nun einer der Sanitäter, „das Evangelische ist voll, die lassen nur noch krasse Notfälle rein …“

„Fahren Sie sie in die Klinik in Sonthofen!“, ordne ich an.

„Sonthofen?! Ist das nicht Bayern?!“, fragt Lungobart.

Ja, denke ich, es ist die südlichste Stadt Deutschlands. „Nehmen Sie diesen Herrn gleich mit“, sage ich und deute auf den treudoofen Hund Lungobart, der natürlich kein Hund ist. Ich sehe ihn dabei an und sage: „Wuff!“

Der Krankenwagen startet seine Reise und meine Mitbewohnerin bilanziert: „Ich habe Dich selten derart arrogant erlebt, Seppo!“

„Ja, ich bin eben ein wahres Hochleistungsarschloch. Und werde heute in meiner Genugtuung baden. Manches müssen Außenstehende gar nicht verstehen.“

„Und warum fiel sie nun aus dem Fenster?“

„Nun, ich nehme an, dass ihr gerade langweilig war oder sich niemand mit ihr beschäftigt hat. Dann tut sie solche Dinge.“

„Könnte sie nicht einfach nur ein selfie posten wie jeder andere auch?!“

Das hatte sie. Im Fallen. Und davor wiederum habe ich großen Respekt.