„Nehmen Sie Platz, Herr Flotho. Betrachten Sie den linken der beiden rechten Stühle als Ihr Eigen!“, sagt Herr Schontermann.

Und ich überlege, ob ich das Erwartbare antworte und entscheide mich tatsächlich dafür, auch wenn ich vorhersehbare Äußerungen auf den Tod verachte: „Aber mitnehmen darf ich ihn nachher nicht? Hehehehe …“

Herr Schontermann überlegt … Seltsame Stille im Raum … Ich interveniere: „Also ich meine, weil Sie sagten-“

„Herr Flotho! Herr Flotho!“

„Ja?“

„Ich hab das durchaus verstanden und ihre Frage war ja so abwegig nicht. Doch werfen Sie einen Blick hinüber zur Bürotür!“

Ich finde es seltsam, werfe aber wie mir geheißen den Blick hinter mich zur Tür und sehe … die Tür. Ich weiß nicht, was Herr Schontermann von mir will und sage: „Soll ich die auch als mein Eigen betrachten?“

Herr Schontermann lacht auf: „Hahahaha, nein, nein. Aber nehmen Sie gerne Maß!“

Nun finde ich es noch seltsamer. Ich fühle mich unwohl, doch entgeht mir nicht, in welch groteske Situation ich da hineingerutscht bin und bete, dass vor mir kein Psychopath sitzt, der ein seltsames Serienkillerspiel mit mir spielt.

„Maß nehmen?!“

„Ja, und dann vergleichen Sie das geschätzte Maß der Tür mit den Ausmaßen des Stuhles!“

Achso, jetzt kapiere ich. Der Stuhl passt nicht durch die Tür.

„Sie könnten den Stuhl gar nicht mitnehmen!“, ruft Herr Schontermann unter schallendem Lachen.

„Ah. Okay. Naja, ich wollte ihn ja nicht wirklich mitnehmen.“

„Das wollte ich Ihnen auch nie anbieten. Wenn jeder meine Stühle mitnehmen würde, würden ja enorme Teile meines Einkommens in die ständige Stuhl-Neuanschaffung fließen!“

„Es gibt ja auch sehr preiswerte Stühle. Und sicherlich auch einen Rabatt, wenn man gleich mehrere Hundert ordert. Nehme ich an. Ich kaufe selten Stühle.“

Herr Schontermann scheint nachdenklich: „Rabatt? Meinen Sie?“

„Naja, ich nehme an, wenn Ihre Firma-“

„Wir sind eine Behörde!“

„Also wenn Ihre Behörde beispielsweise ihre Kantine neu bestuhlen will, würde das entsprechende Möbelhaus doch sicherlich mit Freuden einen Rabatt gewähren!“

„Unsere Kantine verfügt über ausgezeichnete Stühle! Für eine Neu-Bestuhulung wäre eine Ausschreibung notwendig. Und dann kämen die Chinesen vermutlich zum Zug. Nichts gegen Chinesen, aber haben Sie schon einmal gehört, die seien bekannt für ihre Stuhl-Industrie?! Der Chinese an sich sitzt auch weniger als der Europäer.“

„Ist das so?!“

„Das liegt auf der Hand, Herr Flotho.“

„Stimmt“, lüge ich und frage mich, ob diese Unterstellung irgendwie rassistisch sein könnte. Doch diese Frage ist überlagert von zwei anderen Fragen. Eine davon stelle ich direkt:

„Sagen Sie, Ihre Stühle … Wenn die breiter sind als die Tür … Also, ich meine …“

„Wie wir die Stühle in dieses Büro geschafft haben?“

„Genau.“

„Nun, die Frage ist nicht übel. Hat bislang noch keiner gefragt. Ich muss zugeben, dass ich mich selbst ebenfalls nie dieser Frage gestellt habe. Aber warten Sie, das könnte Frau Kaline wissen. Sie ist für die Bestuhlung des gesamten Hauses zuständig. Ich könnte sie direkt anrufen und fragen!“

„Nein,  nicht nötig!“, wiegele ich ab, will ich ja endlich auch zu meiner zweiten Frage kommen.

Doch Herr Schontermann greift schon zum Hörer und drückt einen Knopf am Telefon: „Verbinden Sie mich mit Frau Kaline.“

Ich warte. Herr Schontermann ebenfalls. Verstörenderweise zwinkert er mir dabei zu. Als würde er sagen wollen, „Ich mach das schon, ich bin für Sie da“.

„Schontermann hier. Frau Kaline, kurze Frage. Ich habe hier einen Vorgeladenen, der eine interessante Frage aufgeworfen hat … Ja, danke der geht es gut soweit … Ach Gott ja, sie hat’s mit dem Rücken, die Arme … Ja, so jung ist sie nicht mehr … Nein, ein paar Jahre macht sie sicherlich noch … Also, da die Stühle in meinem Büro ja breiter sind als die Tür, fragen wir uns, wie die Stühle durch die Türen passten … Ja … Okay … Logisch, ja. Danke, Frau dings … Ja. Ihnen auch … Herr Flotho! Manchmal ist die Antwort so simpel!“

„Ach?“

„Die Stühle waren schon vorher im Raum.“

„Ah. Ja, das macht Sinn.“

Ergibt Sinn! Ergibt!“

„Natürlich.“

„Wissen Sie, Herr Flotho, ich neige zur Pflege der deutschen Sprache. Sollten Sie auch.“

„Ja. Also an sich versuche ich mich auch darin. Aber manchmal … Immerhin vermeide ich weitestgehend Anglizismen!“

„Herr Flotho! Unsere Sprache lebt doch erst durch den Einfluss von Anglizismen!“

„Nice.“

„Pardon?“

„Gibt’s hier Kaffee for free?“

„To go?“

„For free to go?“

„Nein.“

Bei Anglizismen erbricht sich meine Seele in einem Strahl mit Unmengen an Spritzwasser in alle Himmelsrichtungen. Doch das teile ich Herrn Schontermann nicht mit. Dafür dieses:

„Ich höre inzwischen 20-jährige reden, um festzustellen, dass sie es nicht vermögen, auch nur mal drei Sätze am Stück ohne ein völlig unnötiges englisches Wort von sich zu geben. Jeder Anglizismus ist nach wie vor ein Stich in mein Hirn. Ich stumpfe da nicht ab, im Gegenteil, es wird immer schlimmer. Ich überlege inzwischen sogar, zu meinem Taschenmesser zu greifen, wenn es mir zu viel wird.“

„Darf man das eigentlich immer mit sich führen?“

„Ja. Gilt nicht als Waffe. Hat 33 Funktionen! Mit Lupe und Nagelfeile! Und Zahnstocher!“

„Darf ich mal sehen?“

Endlich fragt mal einer, denke ich und krame in meiner Cordhose, die ich gegen den Trend ziemlich geil finde, auch wenn aus ihrem Blau inzwischen ein tristes Grau geworden ist, und finde das Messer.

„Oh, ein Schweizer Offiziersmesser!“

Das Schweizer Offiziersmesser! Sie scheinen ein Kenner zu sein!“

„Herr Flotho, ganz kurz, kenne ich Sie aus dem Fernsehen?!“

Ich lache laut auf: „Hahahaha, das kann an sich nicht sein.“

Herr Schontermann begutachtet das Messer, das ich einmal pro Woche reinige und öle.

„Hat gar keine Säge!“, sagt er.

„Doch, doch! Aber die Säge ist immer am schwierigsten zu finden. Da, einen tiefer … Ja! Das ist sie!“

„Erstaunlich! Aber einen Baum kann man damit nicht fällen!“, prustet er los.

Ich bin beleidigt und überlege, Herrn Schontermanns Autoreifen mit der Säge durchzustechen.

„Ich bin Radfahrer, Herr Flotho.“

Wos?! Liest er meine Gedanken?!

„Verzeihung, wie meinen?“, frage ich unschuldig.

„Nur so. Herr Flotho, Messer hin, Messer her, doll, doll, doll, aber womöglich interessiert Sie, warum wir Sie vorgeladen haben.“

Na endlich! Er kommt zum Punkt! Das wäre meine zweite Frage gewesen!

„Korrekt!“, sage ich. Aber wann gibt er mir mein Messer wieder?

„Herr Flotho, angeln Sie?“

Was will er jetzt?!

„Nein. Ich hab aber mal. Am Emmerbach in Münster!“

„Schön, schön. Aber der Fischentschupper von Ihrem Messer sieht sehr unbenutzt aus.“

„Ach, das ist zum Entschuppen?! Frage mich seit Monaten, wozu das ist.“

„Sie könnten mal mit meinem Schwager angeln gehen! Ich könnte ihn sofort anrufen, Herr Flotho!“

„Äh, ja, also ich angle nicht mehr aktiv. Das war mehr so in meiner Jugend. Ich esse auch gar keinen Fisch.“

„Mögen Sie keinen?“

„Ich weiß es nicht genau, habe nie Fisch gegessen. Ich schließe aber aus, ihn zu mögen. Fische sind die Hitlers des Himmels, was überhaupt keinen Sinn macht.“

„Sinn ergibt! Aber da mein Schwager schon seit einiger Cait verstorben ist, würden Sie sich mit ihm nur langweilen.“

„Oh, das tut mir leid. Da könnte ich ja wirklich genau so gut alleine angeln. Ich tue vieles eh lieber allein.“

„Das muss Ihnen nicht leidtun. Ich bin sein Mörder!“, überrascht mich Herr Schontermann – und lacht auf. Mir wird unwohl. Meine Serienkiller-Theorie war womöglich gar nicht so abwegig. Ich öffne meinen Mund, um Herrn Schontermann mit offenem Mund ansehen zu können. Er reagiert auf diese Geste des Erstaunens prompt:

„Nein, nein, keine Sorge. Es war Notwehr. Ich bin unbescholten. So gesehen war es auch kein Mord. Einigen wir uns auf spontane Tötung. Keine Angst, ich bin harmlos, hahaha, ich mag Katzen. Mögen Sie Katzen, Herr Flotho?“

„Ja.“

„Hunde dann nicht?“

„Doch, ich mag beides.“

„Hat man selten. Wie kommt’s?“

„Bei Katzen mag ich ihre Selbstzufriedenheit, ihre Alleingänge. Das hat auf mich auch etwas irgendwie Beruhigendes.“

„Und bei Hunden?“

„Die Treue. Diese treudoofe und bedingungslose Treue. Dafür ernten Hunde meinen tiefsten Respekt. Sie hat etwas Unschuldiges und so Naheliegendes. Und ich halte es für möglich, dass manch Hund ’seinen‘ Menschen wortlos versteht.“

„Sie sind jemand, der auf den treuen Hundeblick reinfällt?“, fragt Herr Schontermann mich.

„Ja.“

„Was für ein Zufall! Ich habe zufällig zwei Hundeaugen hier!“

Ich öffne wieder meinen Mund.

„Da staunen Sie, was?! Moment, hier in der Schublade … Irgendwo … Ja, hier! Sehen Sie!“

Herr Schontermann hält tatsächlich zwei Augen in seiner Hand und ich kann nur annehmen, dass es sich wirklich um die eines Hundes handelt. Dann zögert er, legt die Augen zurück in die Lade.

„Das waren die falschen … Mein Schwager … Moment, ich hab aber auch die des Hundes … Es war der Hund meines Schwagers. Er starb eines natürlichen Todes und wir wollten sie als Erinnerung, also meine Frau wollte die Augen als Erinnerung an den Hund aufbewahren. Jetzt weiß ich gerade gar nicht, ob dieses nicht das linke Auge des Hundes und das rechte meines Schwagers ist … Jetzt hab ich die Augen völlig durcheinandergebracht. Augenblick, bitte.“

Herr Schontermann wuselt in seinen Schubladen rum, während sein Blick auf der 24-Stunden-Uhr an seinem mittleren Handgelenk innehält: „Moment! Es ist schon drei! Jetzt, Herr Flotho, haben wir ein kolossales Problem!“

„Oh!“

‚Oh‘ kann man durchaus aussprechen, wenn der Mund nach wie vor offensteht.

„Ja, das tut mir leid, ich habe jetzt einen Folgetermin. Wir haben uns hier offenbar verquatscht. Herr Flotho, was ich Ihnen anbieten kann, ist ein neuer Termin. Vielleicht komme ich dann einfach zu Ihnen nach Hause, dann können wir das Restliche besprechen.“

„Äh … Zu mir? … Also, das wäre mir nicht so günstig … Wenn ich vielleicht einfach wieder zu Ihnen-“

„Abgemacht! Ich komme dann am Samstagmorgen so gegen zehn Uhr vorbei. Es wird somit um zehn Uhr bei Ihnen klingeln! Gebongt!“

„Äh, ja, meine Mitbewohnerin und ich würden uns freuen, wenn auch zurückhaltend.“

„Super! Wir könnten alte ‚Hallo Spencer‘-Folgen auf Video2000 gucken!“