Zehn Minuten nach Abfahrt des Zuges ist mir das Einwählen in das W-Lan der Deutschen Bahn nun gelungen. Das ist so nervig wie normal, doch liegt es nicht etwa am Wifi der Bahn, sondern am miesen Ausbau der hiesigen Handynetze. Daher erwägt die Bahn inzwischen das Aufstellen eigener Funkmasten entlang ausgewählter Fernverkehrsstrecken. Bedarf erkannt!

Aus reinem Eigennutz nehme ich Sie nun mit auf meine Fahrt von Berlin-Spandau nach Düsseldorf-Düsseldorf, um mir die Cait zu vertreiben, wobei man Zeit selten vertreibt – anders als Konsumartikel -, sondern eher zu ignorieren versucht. Das gelingt mir auf meinen zwei wöchentlichen Fahrten im Wesentlichen durch drei Dinge: Schreiben, Lesen, Netflix/Prime. In dieser Reihenfolge. Sie merken, ich bin noch bei Punkt eins.

Aus Gründen der Leserbindung darf ein Bahn-bashing nicht fehlen, sodass wir damit direkt loslegen, denn gerade erzählte ich noch jemandem, dass man als regelmäßiger Bahnfahrer ganz selbstverständlich den Bahnsteig mit der Frage betritt, um wie viele Minuten sich der Zug denn wohl dieses Mal verspäte.

Vor ziemlich genau einem Jahr, als ich noch Pendler-Neuling war, ging ich in meiner grenzenlosen Naivität noch davon aus, ein Zug komme in der Regel zum im Kursbuch angegebenen Zeitpunkt. Doch wir wissen ja, dass es sich dabei lediglich um Richtzeiten handelt, an die sich die Bahn zumindest zu orientieren versucht. Wird eine Abfahrt mit, sagen wir mal, 16.00 Uhr angegeben, bedeutet dass, dass man sich gegen vier so langsam auf den Weg zum Bahnhof machen sollte.

Dennoch irritiert mich, dass Verspätungen erst immer kurz vor knapp bekanntgegeben werden. Um 18.00 Uhr sollte dieser Zug abfahren, doch war ich nicht überrascht, als mich um 17.59 Uhr die Durchsage erreichte, dass es noch diverse Probleme mit der „Bereitstellung des Zuges“ gebe, ich mich bitte noch einige Minuten gedulden möchte. Möchte ich eigentlich nicht, dachte ich, und fünf derer wurden es, was ich in meiner grenzenkennenden Großzügigkeit (Zügigkeit!) unter pünktlich verbuche. Denn ich verweigere mich auch nach einem Jahr dem ewigen Gemeckere über die Bahn, da wir oftmals nur sehen, was fehlt, nicht aber, was wir haben. Es ist ein Irrglaube, in anderen Staaten laufe das besser mit den Zügen – Japan natürlich ausgenommen, dafür bringen sich dort aber alle um. Sabrina USA, hier oft zitierte Freundin, die in den USA lebt (Sie müssten sie mal sehen!), schrieb mir eben:

„Immerhin habt ihr Züge!“

Heute sitze ich das erste Mal auf dem Platz 41 in meinem Stammwaggon 21, der direkt der Lok folgt. Da Züge nicht zwangsläufig vorn entgleisen, sofern sie es überhaupt tun, rechne ich mir gute Überlebenschancen aus. Im Falle eines Zusammenpralles hingegen rechne ich mir ein zügiges Dahinscheiden aus. Beides geht in Ordnung, alles dazwischen sehe ich skeptisch.

Ich komme darauf, weil sich zwei Damen vor mir gerade genau darüber unterhalten:

Dame eins: „Wenn was passiert, haben wir gute Chancen hier im letzten Wagen!“

Dame zwei: „Sitzen wir ganz hinten?“

Dame eins: „Ja, da achte ich immer sehr drauf.“

Dame eins liegt falsch. Wir sind ganz vorne. Ich habe kurz überlegt, mich in das Gespräch einzuklinken, um sie auf ihren lächerlichen Fauxpas aufmerksam zu machen. Doch das käme klugscheißend rüber und außerdem wäre es eine Perle vor die Sau. Diese leicht resignierte Haltung, gepaart mit Arroganz, spiegelt meine derzeitige Stimmung ganz gut wider. Und ich gönne mir diese Haltung. Ich kann nicht immer für alles und jeden Verständnis haben. Ich möchte auch mal vorverurteilen. Ich verachte dieses ewige auf Toleranz Pochen, das ja doch nur krampfhafte Fassade ist. Dame eins hat nicht alle Latten am Zaun, das darf ich zumindest denken, denn die Gedanken sind ja frei. Kann man nicht mal einfach jemanden so richtig scheiße finden, ohne das groß begründen zu müssen?! Ich fand schon Menschen unheimlich toll – und konnte auch das nicht begründen! Es gibt zwischenmenschliche Wellen, so will ich es hier unter Vorbehalt in Ermangelung besserer Alternativen mal nennen, die einfach da sind, die etwas auslösen, die ein Verhältnis ausmachen können.

Der Zug ist auffallend leer, was wir uns mit Ostern erklären dürfen. Also, mit den dazugehörigen Ferien natürlich. So habe ich neben mir keinen Sitznachbarn, der mich mit seiner bloßen Körperlichkeit nervt. Auch das muss mal deutlich gesagt werden: Menschen können durch bloßes Dasein nerven. Ich beispielsweise nervte eben den leicht Betrunkenen, der auf dem von mir reservierten Platz saß.

„Pardon, das ist leider mein Platz.“

Sagte ich, denn das ist mein Standardspruch. Freundlich räumte er den Platz. Nahm seine Jacke mit. Und seine Tasche. Vergaß aber etwas.

„Sind das Ihre Schuhe?“, fragte ich genau wissend, dass es natürlich seine sein mussten.

„Nein“, sagte er, guckte an sich herunter, sah seine nackten Füße, nahm dann doch lieber die Schuhe und placierte sich in der Wagenmitte, wo er nun selig schläft.

Vier Stunden Fahrt (laut Kursbuch; tatsächlich wird der Zug spätestens in Hamm Zeit verlieren) sind nicht viel. Anfangs fürchtete ich, sie seien ein langweiliger und verschwendeter Lebensabschnitt. Das Gegenteil ist der Fall: Es sind die entspanntesten Stunden meiner Woche.

Gerade zum Beispiel komme ich runter. Ich blicke aus dem Fenster, sehe die Vororte unseres ersten Haltes Wolfsburg, das gerade Opfer des womöglich ersten Sommergewitters wird. Eine unwirkliche Situation: Hören tue ich nur das Rauschen des Zuges. Und sehen tue ich ein Unwetter; gänzlich lautlos, sodass ich die Donner nur erahnen kann, während auch der Regen geräuschlos an das Fenster des Zuges prasselt. Klanglos geht die Welt unter …

Während ich also mit jedem gefahrenen Kilometer entspannter werde und diesen Text schreibe, führe ich Facebook-Unterhaltungen. Leidlich jedoch, da die Internetverbindung immer wieder abbricht. Meine Konversationspartner müssen stets rund zehn Minuten auf meine Antwort warten, während ich nun auf den Bahnsteig in Wolfsburg fasziniert dem Regen zusehe und noch viel faszinierter von den blitzartig auftretenden Blitzen bin! Endlich geht sie wieder los, die Gewitter-Saison! Diese Spektakel werden mich noch in 50 Jahren faszinieren!

In der einen Unterhaltung, die ich nebenbei führe, geht es um diverse „Amazon Prime“-Serien. Ich empfahl „The Man in the High Castle“, in der Adolf Hitler – aus Gründen der Glaubwürdigkeit – von einem deutschen Schauspieler gemimt wird, der auch in der Original-Tonspur natürlich Deutsch spricht. Ich hörte mir das an und verstand kein Wort. Glaubte da noch, es sei eben ein Amerikaner, der versucht, Deutsch zu sprechen. Doch weit gefehlt. Und womöglich deshalb wird er in der deutschen Tonspur von einem anderen Deutschen synchronisiert. Für an der Serie Interessierte: Es ist keine klassische Nazi-Geschichte und darüber hinaus wird sie von Folge zu Folge zunehmend spannend – und mysteriös. Obwohl noch nicht klar ist, ob es mysteriös ist. Und das macht es noch mysteriöser. In meinen Augen ist die Serie ein unglaubliches Meisterwerk, das ich vor zwei Jahren einmal anfing und bereits in Folge zwei aufgab. Warum auch immer.

Über die andere, die zweite Unterhaltung, bewahre ich hier Stillschweigen.

Derweil informiert mich meine „Xing“-App darüber, dass ich zwei neue Profilbesuche habe. Als „Premium“-Mitglied wird mir auch angezeigt, wer es war. „Schon wieder!“, denke ich und fühle mich irgendwie verfolgt. Mein „Xing“-Profil ist eigentlich einigermaßen tot. Ich reaktiviere es immer nur dann, wenn mir das Wasser bis zum Halse steht. Dieses ganze Vernetzen: Mal ehrlich, was soll der Scheiß?! Es wird alles immer so heiß gekocht … so viele Fassaden … so viele hohle Phrasen … alle so überzeugt von sich … Was kommt eigentlich hinten dabei raus?! Meistens nämlich tatsächlich nur heiße Luft. So offensichtlich heiße Luft, dass ich am Verstand der Menschen zweifele. Mit welch groteskem Ernst manch einer eine verwässerte und gestreckte Suppe von sich gibt, übersteigt mitunter mein Fassungsvermögen. Den Blick für das Wesentliche haben viele verloren und bewegen sich auf seltsamen Ebenen, die letztlich völlig gegenstandslos sind.

Dieser Text nähert sich dem Ende entgegen, sodass der nächste Punkt meiner Zug-Beschäftigung naht: das Lesen.

Ich bin großer Fan von Magazinen, die einen gewissen Anspruch mit sich bringen. Und wenn mir gleich jemand mit „Lügenpresse“ kommt: Am Arsch, alles Idiotie, ich ertrage es nicht, Kommentar bitte runterschlucken, es ermüdet mich nur. Für diese unreflektierte Dummheit biete ich hier cainen Platz. Hier pöbelt nur einer, und der bin ich. Schließlich zahle ich ja auch dafür!

Auf der Montagsfahrt in Gegenrichtung las ich „SZ Langstrecke“, das vierteljährlich erscheint. Oder alle zwei Monate?! Ich sollte es eigentlich wissen, ich hab’s im Abo. Das Magazin vereint die eher längeren Texte – ich verachte kurze, da kurze Texte immer da schlussmachen, wo es erst interessant wird – der Süddeutschen in sich und gibt vor jedem Artikel die Lesedauer an, wobei es sich ja nur um eine durchschnittliche handeln kann. Denn ich liege stets drunter. Einen Text, den die SZ mit 29 Minuten Lesedauer taxiert, lese ich in nicht mal 20, weil ich aber auch unter die Schnellleser gegangen bin. Das kann man sich antrainieren, ist eine Übungssache.

Für die jetzige Rückfahrt liegt bereits „Frankfurter Allgemeine Quarterly“ unter dem Laptop, auf dem ich gerade schreibe. Das Magazin erscheint aber nun wirklich vierteljährlich, andernfalls wäre seine Namenswahl ziemlich fragwürdig. Es richtet sich klar an solche Leser, die sich für etwas Besseres halten. Es genügt somit vollkommen, das Blatt, das dick wie ein dickes Buch ist, so zu placieren, dass es jeder sehen kann. Man muss es ja nicht wirklich lesen. Das aber ist die einzige Gemeinsamkeit mit „Mein Kampf“. Denn inhaltlich ist es gut, sodass ich es nicht nur placiere, sondern auch durchaus lese. Vorher jedoch muss ich den Mantelteil meiner Sonntagszeitung meinem Geiste nachreichen. Die kann ich im Zug nur dann lesen, wenn ich keinen Sitznachbarn habe, dem ich andernfalls die Panorama-Seite vors Gesicht knallen würde.

In einer Whatsapp-Konversation, die ich Ihnen bislang verschwiegen hatte, wird mir gerade bedeutet, dass es sich bei meinem Sommergewitter um ein Frühlingsgewitter handelte, da wir eben noch cainen Sommer haben. Ich sehe das anders. Ich wurde da eben, in Wolfsburg, Sie erinnern sich, Zeuge eines Sommergewitters, das halt im Frühling stattfand. Ein Tsunami in der Wüste ist ja auch kein Sandsturm, nur weil er in einer Wüste auftritt, was zugegebenermaßen einigermaßen über alle Maße unwahrscheinlich ist.

Hannover. Der Himmel ist blau, nachdem Wolfsburg im gnadenlosen Schatten der Dunkelheit lag. In etwa drei Stunden wird meine Mitbewohnerin mich empfangen und ich darf vielleicht einmal erwähnen, dass das immer wieder der schönste Moment der Woche ist, vielleicht ja auch für sie. Allein der Gedanke daran hat eine entspannende Wirkung. Was ficht mich dann noch das Ungemach des Lebens an?!

Vielen Dank für Ihre Zeit, fahren Sie nun in Ihrem Alltag fort.