Tränen stürzen sturzbachartig aus Rudines Augen über ihr durch einen Sturz ramponiertes Gesicht. Einen Sturz, der sie erst stürzlich sturzartig heimsuchte, als ich sie aus dem Fenster ihrer Wohnung stieß, aus dem vierten Stock, was – für mich immer verwirrend – die dritte Etage ist.

„Warum muss ich denn sterben?“, jammert sie mich voll. Und warum überhaupt ich darüber entschüde, empört sie sich.

„Eines nach dem anderen“, beschwichtige ich, „Zu deiner ersten Frage: Meine Mitbewohnerin und ich ziehen um nach Münster. Das hat leider dramatische Auswirkungen auf mein Figurenuniversum, das über dreieinhalb Jahre in Düsseldorf gewachsen ist. Ich meine, wie stellst du dir das vor?! Alle meine Nachbarn hier in Düsseldorf ziehen zufällig auch nach Münster?! Das ist doch unglaubwürdig!“

Das überzeugt sie nicht: „Aber Merugin stirbt doch auch nicht! Und Fahrgescheits, was ist mit denen?“

Frau Fahrgescheit ist in der Tat eine real existierende Nachbarin, sie ist die gute Seele in unserem Haus und weiß noch gar nicht, dass wir wegziehen, dass sie mir nur noch zwei Wochen lang meine Caitung vor die Wohnungstür legen wird. Ein bisschen weh wird mir da schon ums Herz, wenn ich da gerade so drüber nachdenke …

„Ich bringe doch nicht Frau Fahrgescheit um! Die war immer ausgesprochen freundlich zu mir! Und Merugin, ja, das ist ein komischer Zufall! Der zieht auch nach Münster!“

„Aber warum musst du deine Figuren denn immer sofort umbringen?! Das ist doch krank! Was würde ein Psychoanalytiker dazu sagen?“

Ja, was würde der wohl psychoanalysieren? Gute Frage! Da ich selbst mein bester Psychoanalytiker bin, übernehme ich den Job kurz und diagnostiziere mir einen lobenswerten Drang zur radikalen Aufgeräumtheit. Ich schaffe mir selbst Klarheit, verweile nicht im Ungefähren und neige zu klaren Schnitten, da ich mit Gegenteiligem ausgesprochen schlechte Erfahrungen gemacht habe. Außerdem bin ich ein Soziopath. Und das erkläre ich so auch Rudine, damit sie ein gewisses Verständnis dafür entwickelt, dass ich nun mit einer Kettensäge vor ihr stehe.

„Musst du mich denn gleich zersägen?!“, empört sich die Hysterische.

„Den Fenstersturz hast du ja überlebt. Ich könnte dir aber alternativ anbieten, dass ich dich mit meinem Toyota überrolle. Ist vielleicht auch weniger blutig. Vom Spritzfaktor her.“

Rudine willigt ein, kommt offenbar zur Vernunft und scheint sich endlich zu beruhigen. Zusammen gehen wir zwei Stockwerke tiefer in meine Wohnung, wo wir auf meine Mitbewohnerin treffen.

„Kommste mit? Rudine überrollen?“, frage ich sie, damit sie mir nachher nicht vorwerfen kann, ihr dieses Schauspiel vorenthalten zu haben. Und sofort sehe ich dieses Leuchten in ihren Augen. Wie damals, als wir Lara überfuhren

Aber sie ist auch skeptisch und fragt mich in diesem Moment in der Realität im Auto neben mir:

„Wir können nicht einfach so wegziehen?! Müssen wir alle umbringen?! Was geht denn da in deinem Kopf vor?“ Aber was interessiert hier schon die Realität, also: zurück in meinen Kopf, wo meine Mitbewohnerin Feuer und Flamme für unser Vorhaben ist.

„Darf ich fahren?“, bettelt sie mich an.

„Okay!“, sage ich gütig, wie man mich kennt, und bitte Rudine, sich auf unsere kaum befahrene Straße zu legen und sich noch einen Moment zu gedulden.

„Wir haben Glück, dass unser Auto so voll beladen ist“, stellt meine Mitbewohnerin fest, als wir im Auto sitzen. Wir entrümpeln derzeit unseren Kellerraum und so ist das Auto randvoll beladen mit alten Lacken, Farben, PVC-Boden- und Laminatresten, „Simpsons“-Figuren und:

Sabrina, das ist für ich:

einem tadellosen BACKBLECH!

Meine Mitbewohnerin steckt ihr Handy in die Autohalterung, die natürlich eine Handyhalterung ist, und öffnet „Maps“.

„Willst du nach Navi über Rudine fahren?“, frage ich etwas irritiert.

„Warum bist du eigentlich immer nur etwas irritiert und nie sehr?“

„Nagut, ich gebe zu, ich bin sehr irritiert.“ Und beobachte, wie sie „Rudine“ als Zielort in der App angibt.

„Route wird berechnet“, sagt das Navi.

„Route wird berechnet“, sage ich.

„Das haben wir alle gehört“, sagt sie.

„Ihr Ziel befindet sich in 200 Metern auf der Straße.“

Meine Mitbewohnerin schaltet den CD-Spieler ein. Und natürlich ertönt:

„War klar“, sagt sie zu mir blickend, „Unsere Münster-Hymne! Passt aber auch hier!“

Sie gibt Gas. Wir sehen, wie Rudine ihren Arm hebt und winkt.

„Schau, wie groß von ihr! Sie verabschiedet sich“, finde ich.

„Vielleicht auch von deinen Lesern!“, ergänzt ergänzernderweise meine Mitbewohnerin, die auch mein Leben auf so wunderbare Weise ergänzt und mit der ich bald wieder im „Enchilada“ sitzen und speisen werden kann! An unserem Tisch!

Es rumpelt.

„Sie haben Ihr Ziel erreicht.“

„Wir sind da“, sage ich und beide steigen wir aus.

„Platt“, stellt meine Mitbewohnerin fest, „Da regt sich nichts mehr.“

„Das geht nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil ich erst bei 747 Wörtern bin. Sie kann noch nicht tot sein! Das müsste sie wissen! Unter 1.000 Wörtern mache ich es eigentlich nie! Das ist ihre Form der Rache!“

Doch da habe ich Rudine überschätzt. Gerade wollen wir sie von der Straße kratzen, da öffnet sie ihre Augen.

„Seppo, es hat nicht geklappt“, stammelt sie, „Ich darf annehmen, du bist noch bei unter 1.000 Wörtern?“

„Ja, pardon. Mein Fehler“, gestehe ich ein.

„Und wenn wir nochmal drüberfahren?“, schlägt meine Mitbewohnerin vor, „Denn wir müssen an sich noch zum Recyclinghof, unseren Müll wegbringen! Der macht um halb fünf zu!“ Der Müll?! Nein, der Hof.

„Oh!“, schwärme ich, denn meine Mitbewohnerin hat mich auf eine Idee gebracht!

Wir laden Rudine, die es nun nicht mehr im Ganzen gibt, unvorsichtig in den Kofferraum.

„Ist das etwa eine Lavalampe?!“, fragt sie.

„Ja, die hab ich vor 20 Jahren mal gekauft. Und da waren sie schon out. Wird auch entsorgt.“

Beim Wertstoffhof angekommen, teilen wir dem „Pförnter“ mit, was wir alles zu entsorgen gedenken: „Wir hätten Restmüll, Lacke, Energiesparlampen, Bauschutt und eine literarische Figur.“

„Hallo! Das bin ich!“, ruft Rudine aus dem Kofferraum.

„Dann bekomme ich zehn Euro für den Restmüll“, erklärt der Pförtner.

Wir überspringen nun den Teil, der tatsächlich sehr viel Zeit in Anspruch genommen hatte, der einen eigenen Text verdient hätte. Denn es ist ja so: Auf einem Recyclinghof weiß man nie so genau, was in welchen Container kommt. Dass Laminat Restmüll ist, hätte ich zum Beispiel so nicht unbedingt gedacht. Vielleicht ein anderes Mal mehr dazu.

„So, nur noch Rudine. Ich schlage vor, sie kommt in den Holzreste-Container.“

„Warum Holz?!“, fragt Rudine bass erstaunt.

„Wegen der Holzpresse.“

Wir gehen hinüber und verabschieden uns voneinander. In die Arme fallen wir uns aber nicht, da Rudines noch bei uns auf der Straße kleben.

„Ja, war eine schöne Zeit“, lüge ich, da ich Rudine nie mochte, „Soll ich dir noch in den Container helfen? Ist ja doch blöd, so ohne Arme.“

„Ja, bitte.“

Schon eine seltsame Situation, wie wir da Räuberleiter machen, aber es ist der schnellste Weg. Rudine liegt zwischen den Sperrholzplatten und harrt der Dinge.

„Darf ich die Presse anwerfen?“, fragt meine Mitbewohnerin.

„Nix da, du durftest schon drüberfahren. Du hattest deine Chance!“

Ich betätige den Holzpressenbuzzer und Rudines Ende nimmt seinen Lauf. Das läuft in etwa genau so ab, wie man sich das vorstellt. Qualvoll langsam senkt sich die Presse und zerteilt Rudine in drei Hälften, was Mathematiker seit jeher vor ein großes Rätsel stellt.

Rudine ist Geschichte. Und gerade, als wir uns aufmachen wollen, kommt Hauptkommissar Ordophob Ohßem des Weges.

„Herr Flotho! Sie hier?!“, ruft er.

„Ach, sieh an! Gibt es was neues im Mordfall Lara?“, erkundige ich mich. Kundige Leser wissen, dass meine Mitbewohnerin und ich sie in einen „Thermomix“ gestürzt hatten, um sie umzubringen, was uns im Übrigen gelang. Ordophob Ohßem ist nach wie vor der ermittelnde Kommissar.

„Wir sind noch nicht weitergekommen. Aber ich habe den Fall abgegeben.“

„Oh, warum?“, will ich wissen.

„Ich habe mich nach Münster versetzen lassen!“

„Und was tun Sie hier?“

„Ich suche nach meinem Telefon. Im Elektrokleingeräte-Container!“