Wenn der Lehrer nach, sagen wir mal, zehn Minuten noch nicht zur Unterrichtsstunde erschienen war, war für mich immer klar: Stunde fällt aus, ab nach Hause, sofern es sich denn um die letzte Stunde eines Tages handelte. Dieses Verhalten ist mir sympathisch.

Doch es gab auch den anderen Schüler-Typus, den, der bereits fünf Minuten nach dem Gong nervös wurde und in einer ersten Annäherung zunächst einmal vorsichtig, sich herantastend in den Raum warf:

„Ob mal einer im Sekretariat nachfragt, wo Herr Raber bleibt?“

Zorniger Blicke meinerseits konnte sich derjenige sicher sein, der sich dann tatsächlich auf die Lehrersuche begab. Zumal ich ein tolles Argument auf meiner Seite hatte:

„Es ist ja nicht unsere Schuld, wenn er nicht kommt. Wir waren ja zu Unterrichtsbeginn anwesend, mehr kann man ja nicht erwarten. Wir haben also frei.“

Und drängte darauf, endlich zu gehen, bevor Herr Raber womöglich doch noch kommen sollte.

Auf diese Weise zeigte sich schon zu Schulzeiten – und heuer wird es kaum anders sein, sofern es nicht strenger geregelt ist -, wer wie autoritätsfürchtig war. Für mich sind auch heute im gereiften Geisteszustand jene Mitschüler ein Mysterium, die dann wirklich ins Sekretariat gerannt sind, um zumindest einen Vertretungslehrer anzufordern. In dem Falle sah ich schlecht aus, wenn ich nach Hause fuhr, der Lehrer doch noch kam und die autoritätsfürchtige Klassenfraktion natürlich noch brav im Klassenraum saß.

„Wo ist Sebastian?“, mochte dann Herr Raber gefragt haben. Und nun kamen die Denunzianten ins Spiel:

„Der ist kurz nach dem Gong abgehauen!“

„Dann dürft ihr Sebastian morgen zu Herrn Borgmann schicken, bitte.“

Herr Borgmann, selig, war unser Schuldirektor und ein ausgesprochen sympathischer Mann, der solche Gespräche, wie ich sie durchaus mehr als einmal hatte, stets an Herrn Subbe, selig, delegiert hatte, da Herr Subbe in der Tat eine furchteinflößende Instanz an unserer Schule, dem Hiltruper Immanuel-Kant-Gymnasium, war. Doch seine Strafen waren erträglich und so fand ich mich Müll sammelnd auf dem Schulhof wieder. Dabei sollte ich über mein Verhalten nachdenken und kam immer wieder zu dem Schluss:

„Alles richtig gemacht!“

Ich kam auf diese Andekdote heute Morgen, als ich badete. In Brandenburg bade ich immer, da es auf „meiner“ Etage der Villa keine Dusche gibt. Außerdem tue ich das nach dem Sport, wo ich jede Sitzgelegenheit nutze, sodass mir die Wanne gerade rechtkommt. Und während ich meinen gewohnt gestählten Körper einseifte, dachte ich darüber nach, wie sinnvoll eigentlich Autoritätsfurcht ist.

Natürlich habe ich mir selbst sofort versichert, dass ich die Autorität des Staates, insbesondere dessen Gewaltmonopol, nicht nur respektiere, sondern abolut unterstütze, da wir in einem sehr tollen Staat leben, was viele nicht mehr erkennen wollen und sich deshalb an neue Autoritäten klammern wollen. Mancheiner wünscht sich wieder einen starken Mann in der politischen Führungsrolle und so kam ich auf Hitler, der als Demagoge überschätzt ist, gar nicht so gut reden konnte, wie man immer meint. Mit Seife im Auge musste ich darüber schmunzeln, dass fast ein ganzes Volk einem kleinen Mann mit noch kleinerem Bärtchen hinterhergerannt ist, der gerne wild gestikulierend und hysterisch herumkrakeelt hat. Die Frage „Hitlergruß oder Merkel-Raute?“ ist doch eindeutig zu beantworten! Wie dumm kann der Mensch sein?!

Und er hat sich nicht gebessert. Warum auch? Warum sollte er sich verändern? Vielleicht, weil er sich einen gewissen Erfahrungsschatz erarbeitet hat, der Warnung sein müsste.

Hitler hat natürlich funktioniert, weil das Regime funktionierte. Das Volk war durchsetzt von Funktionsträgern, die alle nicht viel Entscheidungsgewalt innehatten, aber gerade genug, damit das System des Terrors funktionierte. Jeder Einzelne konnte immer sagen, „Es ist nicht meine Schuld“, eben weil seine Entscheidungsgewalt minimiert war. Dass Nachbar Goldstein von der SS abgeholt wurde? Nicht meine Schuld, das wurde weiter oben entschieden … Dass Goldstein später im Lager erschossen wurde? Ich war’s nicht, ich bewache nur den Zaun …

Das war das System, das immer wieder funktionieren wird. Parallelen sind bereits jetzt erkennbar. Erstaunlich, dass ausgerechnet dicke, grölende Idioten, die keinen Satz geradeaus sprechen können, definieren wollen, was Deutsch ist! Erstaunlich, dass wieder Menschen, die sich „abgehängt“ nennen oder fühlen, jedes Denken an den Nagel hängen und dieses wieder rechten Ideologen überlassen, wobei rechts nicht gleich rechts ist, ich meine hier aber stets rechtsradikal. Ich meine die, die wieder die Institutionen des demokratischen Rechtsstaates dazu benutzen, um diese zu demontieren. Nichts anderes erleben wir gerade. Da soll der öffentlich-rechtliche Rundfunk, den ich nicht müde zu verteidigen werde, abgeschafft werden und da soll beispielsweise der „re:publica“ der Geldhahn zugedreht werden.

Da werden Gerüchte verbreitet, wie das, dass die Bundesregierung jedem Flüchtling 700 Euro Weihnachtsgeld zahle, was auch noch bereitwillig geglaubt wird! Wie unerklärlich dumm! Immerhin hatte ich einen gewissen Spaß, als ich von diesem Gerücht Wind bekam.

Ziemlich durchschaubar. Wer das nicht sieht, wer das verharmlost, der ist schlicht dumm. Ich verweigere mich auch der Differenzierung, da gerade wir Deutschen hier entschieden Widerstand leisten müssen. Das Gejammere der Abgehängten wird dann unerträglich, wenn sie das Heil in Gaulandweidelhöcke suchen. Absurd! Ich habe jedes Mitgefühl dafür, wenn Menschen beruflich und damit wirtschaftlich abstürzen – ob verschuldet oder unverschuldet. Das ist miese Scheiße. Ich habe auch meine Phasen, wo ich die Pfennige mehrfach wenden muss und sehe wieder unruhigen Caiten entgegen. Aber zwei Dinge werde ich nicht tun: jammern und radikal wählen. Wann eigentlich in der Geschichte der Menschheit ging das mal gut aus?!

Wie kann ich mich von einer Gruppe instrumentalisieren lassen und auf Veranstaltungen, auf denen demokratische Politiker, beispielsweise Angela Merkel, sprechen, diese dann hasserfüllt niederbrüllen?! Ohne jede Sachkenntnis aufgehetzt nur durch die neue rechte Stimmung?! Wie kann ein Deutscher im Jahr 2015 mit Mini-Galgen durch die Gegend rennen, an denen Politikerpuppen (Sigmar Gabriel) baumeln?! Ist das nicht Mittelatler?! Wie kann ein solcher noch in den Spiegel sehen, ohne nicht angewidert von sich selbst zu gobulieren?!

Wie ist es möglich, dass eine Gruppierung Anklang in der Bevölkerung findet, in deren Whatsapp-Gruppen offen der Holocaust verleugnet wird, wobei gleichzeitig eine Neuauflage ebenso offen angeregt wird?! Warum wird da nicht eingeschritten?! Es gibt dort Menschen, die ohne Gegenwind Vergasung als Lösung aktueller Probleme vorschlagen! Das soll 2018 sein?! Das soll also eine Alternative für die alteingesessene Politik sein, die im Verbund mit Europa zu eine beispiellos lange Friedenszeit erreicht hat?! Einige haben den Schuss einfach nicht gehört und so wiederholt sich Geschichte. Und ich frage mich, ob mir ein Text wie dieser irgendwann zum Problem wird. Denn das geschieht ja bereits, dass da Journalisten „Besuch“ bekommen – bei der Privatadresse. Auch das sind erstaunlich bekannte Methoden aus der Geschichte. Dieses Mal können wir nachher nicht sagen, wir hätten es nicht gewusst. Dieses Mal liegt das Wissen darüber offen vor uns. Aber selbst das wird ja der Einfachheit halber als Produkt der Lügenpresse abgestempelt. Auch das eine bewährte Methode.

Wie werde ich selbst mich einmal verhalten, frage ich mich oft. Ich kann ja nicht einerseits die verachten, die früher ins Sekretariat gerannt sind, und andererseits vor Demagogen kuschen, die eindeutig eines nicht im Sinn haben: das Gemeinwohl.