Nach einem Wochenende in Edinburgh setzen wir in Köln zur Landung an. Für mich völlig überraschend sind wir nicht abgestürzt – trotz der Turbulenzen, aufgrund derer meine Mitbewohnerin nicht die Flugzeugtoilette benutzen durfte. Quasi im Handgepäck hat sie auf diese Weise mehr als zwei Liter Flüssigkeit mit in die Maschine geschmuggelt. Übrigens ist auch eine Kaffeemaschine eine Maschine, aber da klingt es nicht ganz so cool.

„Mit was für einer Maschine seid ihr geflogen?“
„Kaffee-„

Natürlich weiß ich rational, dass Start und Landung die größten Risikofaktoren eines Fluges darstellen. Gefühlt allerdings ist kurz vor der Landung für mich alles in Butter, meine Flugangst verschwunden.

Auch das muss ich hier nochmal klarstellen: Ich habe gar keine Flugangst, aber ich habe massive Absturzangst. Über die gesamte Dauer des Fluges beschäftigt sich mein Geist mit dem möglichen Absturz. Man mag sagen, das sei eine falsche Herangehensweise, doch zum einen habe ich mir diese ja nicht ausgesucht und zum anderen ist bereits das Einsteigen in ein Flugzeug die falsche Herangehensweise.

Doch genug vom Fliegen, denn jetzt erst, gelandet auf dem Köln-Bonner Flughafen, soll die Tortour so richtig losgehen! Warum? Weil wir ab jetzt mit der Deutschen Bahn die Rückreise nach Münster bestreiten.

Aufmerksame Leser wissen bereits, dass ich ab sofort und absolut die Deutsche Bahn verachte. Sie selbst hat ja jüngst öffentlich zugegeben, dass im Grunde nichts funktioniert. Es ist nicht ihre Schuld, es ist die der Politik, die in den Neunzigerjahren das Schienennetz ausgedünnt hat. Teile der Strecken sind in der Folge nur eingleisig befahrbar, was zu langen Wartezeiten führen kann. Und defintiv auch führt. Die „Pünktlichkeitswerte“ sind gefallen, im Fernverkehr auf zeitweise unter 70 Prozent.

Mein Vorschlag wäre, solche Linien, die sich innerhalb der anderen 30 Prozent bewegen, einzustellen. Regionen, die von diesen Strecken bedient werden, aufzugeben, womöglich zuzubetonieren oder für den Braunkohleabbau zu nutzen. Auf diese Weise werden aus den 70 dann hundert Prozent …

Sollte das auf Widerstand stoßen Komma rege ich an, dass man die unpünktlichen Verbindungen im Fahrplan rot markiert und den Kunden vor einer Buchung warnt:

„Auf dieser Strecke können wir nicht dafür garantieren, dass Sie Ihren gebuchten Zug wie auch Ihr Ziel jemals sehen werden. Es tut uns sehr, sehr leid.“

Am Flughafen erwischen wir sehr effizient die S-Bahn, die uns zum Kölner Hauptbahnhof chauffiert. Während der Fahrt zeigt mir meine Bahn-App an, dass wir den Anschlusszug wider Erwarten „voraussichtlich nicht erreichen“ werden. Naiv war ich vorher, als ich bedauerte, dass wir in Köln 20 Minuten Umstiegszeit totschlagen müssen. Denn die durchaus gut gemachte Bahn-App, „DB Navigator“, zeigt uns in Echtzeit die dahinschmilzende Umstiegszeit an, ehe sie sagt: „Anschluss wird nicht mehr erreicht.“

Da ich in den vergangenen zwei Jahren einen großen Erfahrungsschatz in diesen Dingen aufbauen musste, reagiere ich blitzschnell und buche uns um in einen Intercity nach Münster, der allerings bereits eine Minute nach unserer (voraussichtlichen) Ankunft abfährt.

Wir erreichen ihn! Fast wäre meine Mitbewohnerin zwar in einen ICE gestiegen, der am Gleis „direkt gegenüber“ wartet, doch bin ich derart aggressionsgeladen, dass ich quer wie laut über den Bahnsteig brülle:

„DEN NICHT!“

Ich bin überrascht ob meiner Aggression und stelle fest, dass die Bahn es geschafft hat, mich in einen urzeitlichen Überlebensmodus zu katapultieren. Jetzt sind nur noch meine Mitbewohnerin und ich wichtig. Jetzt geht es darum, trotz Bahn zuhause anzukommen.

Früher, da kam man wegen der Bahn an, heute tut man dies trotz.

Das ist keine selektive Wahrnehmung. Es ist schon ein paar Monate her, da sprach ich mit einer Bahn-Angestellten im Bordbistro, als der dazugehörige ICE in Minden wegen eines Triebwerkschadens liegenblieb. Sie war etwas geknickt, da sie nun wusste, an jenem Abend nicht mehr nach Hause zu kommen. In solchen Fällen, erzählte sie mir, müsste sie sich eben ein Hotel nehmen. Eine Seltenheit sei das nicht. Und da bekam ich Verständnis für Bahnangestellte, die manchmal gereizt auf genervte Bahnfahrer reagieren. Denn auch das Personal leidet unter den Verspätungen. Bei der Gelegenheit muss ich ergänzen, dass mir gegenüber noch nie ein Bahnangestellter unfreundlich war. Vielleicht hilft es, diese wie Menschen und nicht wie Arschlöcher zu behandeln.

„Wir sitzen drin!“, sage ich zu meiner Mitbewohnerin, nachdem sie endlich die zwei Liter „Saskia“-Mineralwasser aus Schottland in der IC-Toilette ablassen konnte. Und ich rechne ihr vor, warum wir ganze 20 Minuten früher in Münster sein würden, als mit der ursprünglich vorgeschlagenen Bahnverbindung. Ich bin wahnsinnig stolz auf meine Fahrplan-Improvisationskünste! Dies soll sich ebenfalls als sehr naiv herausstellen …

Doch vorher erkunde ich wie auf dem Hinflug die Funktion meiner Rückenlehne. In einem IC funktionieren sie grundlegend anders als in einem ICE. Für Nichtkenner: Bewegt man seine Rücklehne im ICE nach hinten, bekommt der hinter einem Sitzende dieses nicht mit. Im IC allerdings verhält sich das ganz anders, insbesondere dann, hat dieser sein kleines Tischchen, an der Rücklehne des Vordermannes befestigt, ausgeklappt und am besten noch einen Kaffee darauf platziert.

„Wo muss ich denn hier drücken, um die scheiß Lehne …“, frage ich genervt.

„Du fährst doch sooft Bahn!“, meine Mitbewohnerin.

„Ja, aber der feine Herr fährt immer ICE! Nicht wie der Pöbel IC!“

„Da, an der Armlehne ist ein Knopf. Wie im Flugzeug!“

Ich betätige den Knopf und die Lehne bewegt sich ruckartig krachend nach hinten. Zu meinem Glück sitzt hinter mir niemand.

Anders bei meiner Mitbewohnerin, die es mir nachtut.

„HEYYYY!“, ruft jemand hinter ihr.

Ich drehe mich um und sehe ein Mädchen, halb so alt wie ich und dennoch nicht jung, was mein Alter gut beschreibt, das mir ihre mit Kaffee getränkte Hand zeigt.

„PASS DOCH AUF!“, sagt sie, „MIT DEINER LEHNE! SACH DOCH WAS!“

„Ich war’s nicht“, sage ich und zeige auf meine Mitbewohnerin, die plötzlich nicht mehr soviel Spaß hat wie auf unserem Hinflug, wo dieses mir geschehen war. Was für eine Genugtuung!

Wir versorgen die Halbstarke mit Taschentüchern und bieten den Neukauf eines Kaffees an, den sie ablehnt. Denn nun, in Düsseldorf, wolle sie aussteigen.

„Wir fahren durch Düsseldorf!“, sage ich meiner Mitbewohnerin, „direkt an unserer alten Wohnung vorbei!“

Ein seltsames Gefühl, als wir da so über die Eisenbahnbrücke neben unserem alten Wohnhaus fahren, kurz vor dem Bordell „Am Bahndamm“ mit den nummerierten Fenstern, die ja fast legendär sind. Die Zeiten des Zuglärmes, sie sind in Münster nun vorbei!

Erste Probleme in Recklinghausen. Wir stehen seltsam lange am Bahnhof. „Störungen im Betriebsablauf“ hören wir. Ich kollabiere. Erst innerlich. Äußerlich dann später vor Albachten.

Natürlich kennen Sie Albachten nicht. Albachten ist eine Münster vorgelagerte Satellitenstadt. Der Zug entschleunigt. Kommt zum Stehen.

„Ich kotze“, kommentiere ich den Stillstand, der gar keiner ist, denn plötzlich bewegt sich der Zug wieder. Allerdings in die falsche Richtung.

„Ich breche zusammen“, informiere ich lautstark die Mitreisenden.

„Ist das gut, wenn er falschherumfährt?“, fragt meine selten zugfahrende Mitbewohnerin, die selten Zug fährt.

„Das ist nicht gut. Das ist sogar für die Deutsche Bahn ungewöhnlich.“

Ich werfe einen Blick auf die Bahn-App, die mich davon in Kenntnis setzt, dass wir Münster (Westf.) Hbf. mit einer leichten Verzögerung erreichen werden. Klar, die Fahrtrichtung ist ja auch irgendwie Münster entgegengesetzt.

70 Minuten später.

Der Zug hält wieder und verharrt in der Dunkelheit. Wir sind wieder kurz vor Münster, in Albachten. Im Grunde also Zuhause. Andere Fahrgäste greifen zum Handy, informieren auf sie Wartende darüber, dass das wohl nichts mehr wird.

„Geht ohne mich essen“, höre ich. Oder „Ich nehme mir ein Hotel“.

Andere schlafen oder sind bereits verstorben. Ich sitze, vom Platz heruntergerutscht, mehr auf meinem Rücken als auf dem Podex; versinke nicht nur im Sitz, sondern auch in Selbstmitleid.

„Von wegen, Fliegen geht schnell. Wir sind seit 13 Stunden unterwegs. Man fliegt 70 Minuten, aber die Drumherumscheiße dauert zwölf Stunden.“

Durchsage vom Zugchef: „Wir informieren Sie über unsere eventuelle Weiterfahrt, sobald die Zugleitung uns informiert hat“.

„Fickt euch. Fickt euch allesamt“, sage ich und trete hochgradig aggressiv gegen den Vordersitz. Der dort Sitzende irritiert: „Geht’s wieder weiter?“

In den zurückliegenden Tagen habe ich einen Schlafmangel kumuliert, der mich in einen Unsympathen verwandelt hat, obgleich mancheiner mich schon vorher dafür hielt. Und so resigniere ich um 20 Uhr 30, gebe die Bahn, unsere Heimkunft, mich und die Welt auf. Das Schicksal ist an diesem Abend gegen uns. Was nützt es, sich noch gegen das Offensichtliche zu stemmen?!

Nachts setzt sich der Zug dann endlich wieder in Bewegung. Und so fahren wir die letzten zehn Minuten (!) zum Hauptbahnhof. Und wenn Sie mich in den Kommentarspalten fragen, warum wir nicht einfach in Albachten ausgestiegen seien, dann weise ich auf die naheliegende Antwort hin: Offenbar ging das nicht, sonst hätten wir das freilich getan.

Wieder Zuhause angekommen ist eine Entschuldigung meinerseits bei meiner Mitbewohnerin fällig, bevor ich in einen tiefen, aber viel zu kurzen Schlaf falle. Und schon in der Einschlafphase formuliere ich vor, wie ich künftig über die Deutsche Bahn an dieser Stelle schreiben werde. „Arschgeficktes Fotzenunternehmen“, „Fotzendrecksarschbahn“ und „Hurenfotzenkacke“ kommen mir durch den Kopf. Ganz so vulgär wurde es dann doch nicht, aber die Zeiten, in denen ich hier die Bahn in Schutz nehme, sind vorbei.

Denn schon zwei Tage später sitze ich abermals in einem in Hamm gestrandeten ICE, dessen Lokführer nicht aufzufinden war.

Fünf heitere Berichte zu unserem Edinburgh-Aufenthalt liegen nun hinter uns. Wer sich für entsprechende Fotografien interessiert, der werfe einen Blick auf mein Instagram-Profil; es geht auch, ohne dort angemeldet zu sein oder mir zu folgen. Und morgen früh schon kommt die nächste Bahnfahrt! Mit Umsteigen in Hamm! Mir ist jetzt schon klar, dass das natürlich nicht der Fall sein wird.