2. Januar 2019. Seit zwei Tagen bin ich nun arbeitslos. Mein Schlafrhythmus ist außer Kontrolle, vor 14 Uhr stehe ich nicht auf. Ich trage einen Jogginganzug mit Adiletten als Schnittstelle zum Boden. Ich schiebe die leeren Bierdosen zur Seite und frühstücke Chips. Zwar beziehe ich ALG I, doch habe ich mich bei einer RTL II-Sendung schon einmal darüber informiert, wie man als ALG II-Bezieher zu leben hat. Geht es nach dieser „Doku“-Serie, brauche ich noch eine möglichst dicke, schwitzende Freundin, die mir die Zigaretten dreht; aus dem Tabak, den man zum Monatsanfang, wenn das Geld ausgezahlt wird, bei „Lidl“ oder „Aldi“ kauft, um dann festzustellen, dass man mit dem Geld nur etwa die erste Woche des Monats hinkommt. Wenn ich nicht gerade rauche, sitze ich an meiner Playstation. Rauchend.

Waschen darf ich mich auch nicht mehr, weil Hartz IV-Empfänger, zumindest die bei RTL II, das auch nicht tun. Ich rieche an mir und stelle fest, dass das unmöglich der Duft des Geldes sein kann.

Tatsächlich habe ich keine finanziellen Probleme, weil ich vorher so unfassbar gut verdient habe und mit Geld nur so zugeschissen wurde. Ich trage auch keinen Jogginganzug, sondern sitze in Unterwäsche vor meinem Rechner. Ich bin in leichter Panik: Am fünften Januar habe ich meinen ersten Termin bei der Arbeitsagentur Münster-Ahlen oder Ahlen-Münster. Und ich habe noch nicht eine Bewerbung geschrieben. Fünf wollte ich mindestens bis zum ersten Termin abgeschickt haben, um zu signalisieren, dass ich mein Leben im Griff habe. Habe ich ja auch irgendwie. Alles passt, ich bin einigermaßen zufrieden. Ach, was sag ich, ich bin absolut selbstzufrieden! Wir leben uns gerade in unserer neuen Wohnung ein, die schon fast fertig eingerichtet ist. Gut, es fehlt uns noch ein Kleiderschrank, aber ich bin zuversichtlich, noch im Januar einen zu finden. Wäre ja albern, wir hätten beispielsweise noch im September keinen …

Erstmals öffne ich diverse Stellenbörsen im Netz, um festzustellen, dass sie alle voneinander abschreiben beziehungsweise eh zum gleichen Konzern gehören. Am Ende meiner Bewerbungsphase werden rund 45 Bewerbungen verschickt worden sein, wobei 35 davon Initiativbewerbungen sind, also vollkommen aussichtslose. Dennoch sind sie wichtig, da man der Arbeitsagentur eine gewisse Anzahl vorweisen muss. Ich übrigens hatte nie eine genau definierte Anzahl, die ich pro Woche verschicken sollte. In guten Wochen schaffte ich zehn, in anderen drei bis fünf, manchmal auch null.

Aus Erfahrung weiß ich, dass die Vorgehensweise von Amt zu Amt, von Berater zu Berater, unterschiedlich ist. Kleiner Tipp von mir: Schreiben Sie so viele Bewerbungen, wie es Ihnen möglich ist. Sobald Ihr Berater auf die Idee kommt, Sie würden zu wenige Bewerbungen rausschicken, wird es ungemütlich. Behalten Sie jederzeit das Heft oder gerne auch das Zepter des Handelns in der Hand. Wir genießen in diesem Land eine ungeheure Freiheit, die wir oftmals nicht zu schätzen wissen, doch sobald man arbeitslos ist, ist man nicht mehr sein eigener Herr. Und beachten Sie, dass jede Bewerbung auch der Agentur vorzeigbar sein muss. Und bewerben Sie sich auf jeden „Vorschlag“, den die Agentur Ihnen macht. Mein Highlight war vor einigen Jahren, dass ich mich bei einem Frisör in Mülheim an der Ruhr bewerben sollte. Nun könnte man mit der Agentur über Sinn und Unsinn dieses Vorschlages diskutieren oder sich einfach Mühe und Cait sparen und eine Bewerbung abschicken.

Gleichzeitig mit mir wurde eine Freundin arbeitslos. Wie auch ich hat sie ihren Arbeitsvertrag auslaufen lassen. Der Unterschied zu mir: Sie ist dermaßen gut und speziell qualifiziert, dass sie sicher weiß, innerhalb weniger Tage einen neuen Job bekommen zu können. Sie gönnt sich nun freiwillig und ganz bewusst eine mehrmonatige Auszeit. Ich hingegen bin studierter Geisteskrankerwissenschaftler mit rund zehn Jahren Berufserfahrung im Medienbereich: also eher diffus qualifiziert, nicht greifbar. Kann irgendwie alles, aber irgendwie auch nichts. Meine Berufsbezeichnung wird im System der Arbeitsagentur nicht einmal aufgeführt. Darum listet mich die Behörde, der gegenüber ich im Übrigen keinerlei Groll hege, als „Kameramann“. Das ist die Ironie meines Lebens: Wenn ich eines im Medienbereich nie machen wollte, aber oftmals gemacht habe, ist es das Bedienen einer Kamera. Zwei Dinge habe ich mir geschworen: nie wieder für einen Kaiser zu arbeiten und nie wieder an einer Kamera – dann eher ALG II.

Schnell ist mir klar, dass die Arbeitsagentur mir keine Hilfe sein würde, zumal meine Beraterin mir das auch offen gesagt hat. Ich weiß aber auch, dass ich bei jedem Termin dort den Eindruck totaler Selbstkontrolle und Zuversicht ausstrahlen muss. Meine Strategie war: sie zu überrollen, kaum zu Wort kommen zu lassen, den Eindruck zu erwecken, ich hätte einen Plan. Hatte ich ja auch.

Aber keinesfalls kann ich da aufschlagen, ohne auch nur eine Bewerbung abgeschickt zu haben!

In die Suchmaske des Portals „Indeed“ gebe ich „Münster“ ein. Den Umkreis halte ich sehr beschränkt, da ich ja nicht nach Münster gezogen bin, um in Hamm zu arbeiten. Hinter mir liegt ein Pendel-Job in Berlin und ich habe mir geschworen, dass mir so etwas nie wieder passiert, dass ich ab sofort selbst bestimme, wie ich lebe. In meiner ersten Lebenshälfte war das selbstverschuldet nicht der Fall.

Die Uhr tickt ab sofort. Zwölf Monate bezieht man ALG I, bevor es richtig ungemütlich wird. Mein Umfeld ist wie ich auch optimistisch. „Du findest schon was“, höre ich oft. Zu diesem Caitpunkt glaube ich das auch noch.

Weiters gebe ich „Social Media Manager“ in dem Jobportal ein. Und nun geschieht etwas, das mich vier Monate lang in den Wahnsinn treiben wird, sodass ich an dieser Stelle kurz vulgär werden möchte, damit der Leser versteht, welche Wut sich mitunter aufstauen kann:

„Kackfotzenarschlochhurensohnfotzendrecksportal!“, rufe ich.

„Läuft nicht gut?“, erkundigt sich meine Mitbewohnerin, als sie ins Wohnzimmer kommt.

„Ich gebe ‚Münster‘ ein. ‚Münster Westf.‘. Und dieses Hurenarschlochsohnportal spuckt mir permanent Jobs in Gütersloh, Dortmund und Berlin aus! Berlin! Da sucht eine Gaming-Agentur! Lies Dir mal die ‚Kununu‘-Bewertungen für die durch! Da wird einem anders …“

Übrigens, auf Firmen-Bewertungen bei „Kununu“ oder ähnlichen Portalen gebe ich nichts. Diese sind immer äußerst subjektiv und vielleicht hier und da auch von Wut und Nachtreten getrieben. Ich werde mir in den kommenden vier Monaten nicht eine Bewertung durchlesen, da sie einfach nichts bringen. Sie verunsichern eher. Über meinen derzeitigen Arbeitgeber lese ich Durchwachsenes, während ich selbst hochzufrieden bin.

„Das Theater Münster sucht einen Social-Media-Manager!“, stelle ich fest, „da bewerbe ich mich aber umgehend!“

Voller Tatendrang verfasse ich das Anschreiben, um währenddessen festzustellen, dass es sicherlich hilfreich wäre, reinzuschreiben, dass ich oft ins Theater gehe. Das wäre allerdings eine dreiste Lüge, doch ein bisschen Pimpen einer Bewerbung darf ja sein. Habe ich gelesen: Man soll auf die Kacke hauen, weil es alle so machen. Darüber hinaus lese ich mir keine Ratgeber-Literatur durch. Wenn ich eines kann, denke ich mir, dann schreiben. Anschreiben geraten bei mir immer zu einer Art Blog-Artikel, nur deutlich kürzer. Unkonventionell meist – und genau das fruchtet.

„Wir müssen demnächst sehr oft ins Theater“, erkläre ich meiner Mitbewohnerin.

„Sag ich doch! Endlich!“

Der Job passt genau auf mein Profil. Ich bin sicher, dass man mich nimmt und hoch entlohnt. Zukunft gesichert! Theater Münster! Meine Welt! Und ich wohne fast nebenan! Hatte ohnehin überlegt, mich im Ernstfall einer Gauklertruppe anzuschließen, ist ja auch irgendwie Theater.

Die größte Hürde beim Schreiben von Bewerbungen ist für mich – und auch für andere, wie ich zuletzt oft hörte -, das Erstellen der Bewerbungsunterlagen. Diese Hürde hatte ich zum Glück bereits ein Jahr zuvor genommen, als ich meinen Arbeitsvertrag nicht nur nicht verlängern, sondern kündigen wollte, wozu es dann doch nicht kam, da man mir eine Karriere bei „Twitch“ in Aussicht stellte. Nun, was soll ich sagen, die Entwicklung war eher eine andere. Zum Glück. Im Nachhinein: alles zum Glück! Erst der prekäre Job in Berlin machte mir das Umsiedeln nach Münster so leicht. Denn ich hatte nichts zu verlieren. Eine komfortable Situation für einen Neuanfang.

Im März (!) sagt mir das Theater ab. Sie laden mich nicht einmal ein. Was für ein Affront!

„Ich kündige das Theater-Abo!“, rufe ich empört.

„Du hast ein Theater-Abo?!“, meine Mitbewohnerin.

„Nicht im unmittelbaren Sinne … eher gar nicht … aber ich schließe eines ab und werde es umgehend widerrufen!“

Auf den letzten Drücker habe ich meine ersten fünf Bewerbungen an den Mann gebracht und betone, dass es alles ernst gemeinte waren, keine „Quotenbewerbungen“. Die sollen erst später kommen, da Jobportale selbst für den Raum Gütersloh, Dortmund und Berlin nicht täglich neue Stellen offerieren. Es sei denn, man ist eher handwerklich-technisch unterwegs, da sieht es schon besser aus als bei Textern oder Social-Media-Managern. Social-Media-Manager – was soll das überhaupt sein?!

Das Suchwort „Texter“ führt bei mir zu den meisten Vorstellungsgesprächen. So auch zu meinem ersten in einer Werbeagentur am Münsteraner Hafen. In den kommenden Monaten werde ich oft am Hafen sein, da es dort von Agenturen nur so wimmelt. Nicht eine wird mich einstellen. Die Agentur „XXXX“ (musste ich zensieren) hat jedoch Interesse an mir, das nach dem Vorstellungsgespräch dann deutlich abflaut. Sie suchen einen Moderator für Image-Filme. Allerdings nicht festangestellt. Und bei der Frage „Was ist derzeit Ihre Lieblings-Werbekampagne?“ versage ich völlig, da ich Werbung eigentlich grundsätzlich nicht so dolle finde, was ich so offen natürlich nicht sage. Mir fällt eine Kampagne ein, die derzeit Aufsehen erregt. Er kennt sie jedoch nicht (Und leider fällt sie mir jetzt, im September 2019, nicht mehr ein.). Das Gespräch wird hölzern, beide Seiten haben keine Lust mehr. Und freier Mitarbeiter möchte ich ohnehin nicht werden. Wenn Ihr Leute haben wollt, die für Euch arbeiten, dann stellt sie gefälligst ein. Humankapital ist nicht Euer Problem, es ist die Lösung.

Wir sprechen noch über mein Lieblingsthema, über mich. Nein, Scherz, über meinen Blog.

„Machst Du da viel mit Agenturen zusammen?“, will er wissen und ja, freilich duzt man sich.

„Äh, Agenturen? Wie?“

„Naja, platzierst du Werbung? Product Placement?“

Gerne würde ich sagen, dass ich nichts mehr ablehne als die Verschleierung von Werbung als redaktionellen Inhalt, dass ich das im Grunde für Betrug und Verarsche halte; dieses Konzept setzt darauf, dass der Leser nicht merkt, dass er gerade Tendenziöses liest.

„Nein, also ich bekam schon viele Angebote“, sagte ich wahrheitsgemäß, „aber es hätte sich finanziell nicht gelohnt.“

Ach, es langweilt mich. Das Gespräch ist nicht mehr zielführend, ich möchte hier raus. Mein Wunsch wird erfüllt.

„Gut, gut, nun, wir melden uns dann.“

Das hat er gesagt. Er hat wirklich diesen Klischeesatz ausgesprochen und ich weiß natürlich – und hoffe es auch -, nie wieder von ihm zu hören.

In diesen ersten Wochen meiner Arbeitslosigkeit habe ich derart viele Vorstellungsgespräche, dass ich mir wirklich einbilde, irgendwie „gut“ zu sein. Doch im März soll sich das Gefühl einschleichen, dass meine Vorstellungsgespräche nie zu etwas führen. Sie beginnen, mich zu langweilen. Ich fahre völlig unaufgeregt zu diesen Gesprächen und denke mir jedes Mal, ist ja eine gute Übung! Aber für was? Für die nächste Übung?!

Ich neige nicht zum Blenden. Ich sitze nicht in solchen Gesprächen und tue so, als wäre ich der Größte. Sätze wie „Ich würde Ihr Team hervorragend ergänzen“ oder „Sie haben nur so auf mich gewartet“ hört man nicht von mir. Auf die Frage „Wo sehen Sie sich in fünf Jahren“, sage ich jedes Mal:

„Keine Ahnung. Vor einer Woche hätte ich nicht einmal gedacht, jemals hier zu sitzen.“

Das ist definitiv die falsche Antwort. Ein weiterer Rat: Sagen Sie das, was man von Ihnen hören will. Und blenden Sie. Warum? Die anderen tun es auch. Aber man muss der Typ dafür sein, ich bin es nicht. Ich sehe in solchen Situationen sofort deren Komik und kann unmöglich erzählen, wie toll ich bin! Unabhängig davon ist jedes Vorstellungsgespräch anders, jedes hängt davon ab, wem man gegenübersitzt. Ich habe bei meinem letzten, dem erfolgreichen, auf gewisse Standardfragen schlechte Antworten gegeben – und dennoch hatte ich Erfolg. Vielleicht auch gerade deswegen. Humor kann manchmal helfen, manchmal jedoch auch alles zerstören. Habe beides erlebt. Es gibt Situationen, wo ein kleiner Gag völlig unangebracht ist, insbesondere dann, wenn Ironie nicht erkannt wird.

Während meiner Arbeitslosigkeit habe ich nicht einmal ausgeschlafen. Mein Leben ist mir nicht entglitten. Aber ich habe die gehasst, die ich morgens sah, wenn sie zur Arbeit fuhren. Ich habe es nicht gemocht, vormittags im „Rewe“ zu stehen, umgeben von älteren Menschen, die nicht mehr zu arbeiten brauchen (oder meinetwegen nicht können, dürfen, wie auch immer). Und tatsächlich beschlich mich teilweise das Gefühl, nicht so richtig dazuzugehören.

Aber: Ich will hier weder klagen noch dramatisieren. Es ist zwar schwer, einen neuen Job zu finden, aber ich bin kein hoffnungsloser Fall und so sah ich mich auch nie. Ich bin nur leider nicht der Typ, der die neue Freizeit genießen konnte. Als ich meine Jobzusage telefonisch bekam, im April, wurde ohne große Umwege eine Flasche Sekt geleert, bevor ich mich dem Captain Morgan zuwandte. Das wiederholte ich dann noch weitere zwei Tage und bedauerte, dass die Freizeit ein Ende hatte. Aber was nützt schon freie Cait mit ungewissem Ausgang? Und niederschreiben wollte ich das alles auch nicht; eben weil es kein schönes Thema ist. Inzwischen aber schon.


Geschrieben am 20. September 2019.

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