„Könntet Ihr auch erst um halb zwei kommen?“, fragt mich mein Vater oder meine Mutter via Whatsapp, während meine Mitbewohnerin und ich bereits unser Auto beladen. Ich weiß nie, wer von beiden mir gerade schreibt, da meine Eltern ein gemeinsames Smartphone nutzen, obgleich sie über vier Handyverträge verfügen – eine Folge historischen Wucherns. Ein Klapphandy beispielsweise hat meine Mutter noch in Betrieb, das über „Simyo“ läuft, was jetzt aber wohl „Blau“ heißt. Monatelang hatte sie mich einmal versucht, mit diesem Handy zu erreichen, doch kannte ich die Nummer nicht und bei mir unbekannten Nummern „hebe ich nicht ab“. Als sich das irgendwann einmal aufgeklärt hatte, erfuhr ich auch, dass mein Vater ebenfalls noch ein Klapphandy in Betrieb hat, das er aber kaum benutzt, denn er hat ja auch das Smartphone. Und an diesem Heiligen Abend sollte ein brandneues „Samsung S20FE“ – „Fan Edition“ – Teil des Gabentisches sein, da meine Mutter künftig ihr ganz eigenes Smartphone samt Vertrag nutzen möchte. Neben dem Klapphandy. Und dem anderen Smartphone.

„Großartig!“, sage ich zu meiner Mitbewohnerin, „Sie wollen, dass wir später kommen. Sie sind noch einkaufen. Warum hält sich niemand an mein Heiligabend-Drehbuch, das sich in den letzten 40 Jahren bewährt hat?!“

Wie die vergangenen 40 Heiligabende feiern wir ungeachtet der grassierenden Beulenpest mit drei Generationen in meinem Elternhaus (ohne dabei etwaige Verordungen zu missachten). Mein Drehbuch veträgt keine Pandemien, auf die ich Rücksicht nehmen könnte.

Wie in den vergangenen 40 Jahren wird der Gabentisch nach der bewährten Aufteilung gestückt: Mein Vater sitzt am hinterten Kopf des Tisches (Ist das denn der Fuß?!), ich links daneben. Es folgt meine Mitbewohnerin, darauf dann meine Schwester, die einen Platz nach links rücken musste, weil seit 16 Jahren meine Mitbewohnerin Teil dieser Choreographie sein darf. Gegenüber meiner Schwester sitzt meine Mutter, der ich seit 20 Jahren den Tischkalender „Eine Reise durch Deutschland“ schenke. Und irgendwo zwischen uns werden mein Neffe und meine Nichte platziert, die inzwischen leider nicht mehr ans Christkind glauben. Aber an ihren Vater, der allerdings dieses Jahr aus beruflichen Gründen nicht das große Vergnügen hat, meinem Weihnachtsdrehbuch Folge zu leisten. Und so ehrlich muss ich sein: Dieses Drehbuch interessiert im Grunde auch nur mich …

„Wir fahren trotzdem schon jetzt“, entscheide ich und schreibe an das Smartphone meiner Eltern: „Wir kommen trotzdem jetzt schon, da der Schwertransport bereits in Hiltrup unterwegs ist.“

Hiltrup ist ein Vorort Münsters und mein Bethlehem. Und der Schwertransport ist ein running gag zwischen meinem Vater und mir, um uns gegenseitig zu zeigen, wie reich wir uns beschenken werden.

Der Container mit deinen Geschenken erreicht gerade den Hambuger Hafen. Oder Könnt ihr einen zweiten Gabentisch im Garten aufstellen? Ich glaube kaum, dass wir alle deine Geschenke ins Wohnzimmer kriegen. Oder Wir müssen uns in zwei Fuhren bescheren, es sind einfach zu viele Geschenke.

Mein Vater: Soll ich vor unserem Haus eine Halteverbotszone für den LKW mit den Geschenken einrichten lassen? Oder Hinten im Hof könnte eine Militärtransportmaschine landen, falls der LKW zu klein sein sollte.

Die Pointe ist natürlich am Ende eine gewisse Übersichtlichkeit der Geschenke, doch da 2020 mein persönliches Highlightjahr auch aus wirtschaftlicher Sicht ist, hatte ich mich für dieses Jahr dem Konsumterror verschrieben, da ich entgegen der landläufigen Einstellung – die überwiegend verlogen und alles andere als zuende gedacht ist – Freund unseres Wirtschaftssystems bin, das voll auf Konsumfreude fußt. Denn machen wir uns nichts vor: Sie ist der Grundpfeiler des Wohlstandes, den insbesondere die genießen, die meinen, zu jeder Jahreszeit Avocados fressen zu müssen, während ihnen aber „Fleisch aus der Region“ besonders am Herzen liegt.

Drei Generationen treffen also an diesem Heiligen Abend in Münster-Hiltrup aufeinander, sodass ich Berge von Geschenken erwarte, die ihren Besitzer wechseln werden. Allein meine Mitbewohnerin und ich verlassen unser Haus in Münster-Neutor mit sieben großen Einkaufstaschen. Darüber, welches Geschenk für wen bestimmt ist, habe ich schon lange keinen Überblick mehr.

In meinem Elternhaus angekommen, kriege ich dessen Haustür kaum auf, da sich hinter ihr ein riesiger Karton vom „MediaMarkt“ befindet.

„Ah, meine Dolby-Surround-Anlage!“, stelle ich freudig fest, „Ist sie doch noch pünktlich gekommen!“

Die werden meine Eltern mir schenken. Und wie jedes Geschenk für mich habe ich auch dieses selbst bestellt und direkt an die elterliche Adresse schicken lassen. Weihnachten ist also gerettet.

„Da wird Jan neidisch sein!“, prophezeie ich, „Ich habe das größte Geschenk!“

Jan ist jener Neffe, der zum einen von mir das kleinste aller Geschenke bekommen wird – ein Miniatur-Taschenmesser von „Opinel“, etwa drei Zentimeter lang – und der zum anderen am Ende des Abends kein bisschen neidisch ist, da er offenbar reifer ist als ich.

Nach einer Stunde etwa kommen meine Eltern dazu, fast zeitgleich meine Schwester, Jan und Hannah.

„Gut, dass du da bist“, sagt meine Mutter, denn: „Es kamen so viele Pakete in letzter Zeit, ich weiß nicht, welches für wen ist.“

„Bis auf diese große Kiste, die ist für Sebastian“, ruft mein Vater aus der Küche, der die Angewohnheit hat, von überall her sich in Gespräche einzuschalten. Meine Eltern sind fünf Jahre auseinander und tummeln sich um die 70 herum. Da hört der eine schon mal weniger gut als der andere laut spricht, sodass nun die üblichen Verständigungsprobleme einsetzen.

„Was?!“ ruft meine Mutter plötzlich eher laut.

„DIE GROSSE KISTE IST FÜR SEBASTIAN!“, wiederholt mein Vater jetzt deutlich lauter.

Sebastian, das bin übrigens ich und erkläre: „Da ist die Dolby-Surround-Anlage drin.“

„Wer kriegt die?“, fragt meine Mutter.

„WAAAS?“, brüllt mein Vater aus der Küche.

„WER DIE KRIEHIIIEGT?“

„Na ich. Die schenkt ihr mir!“, erkläre ich meiner Mutter.

„Achso. Dachte, da wären die Inline-Skates für Hannah drin“, murmelt sie.

Hannah ist meine Nichte. Meine Mitbewohnerin und ich schenken Hannah etwas, von dem ich keine Ahnung habe, was es ist. Meine Schwester, ihre Mutter also, instruierte mich entsprechend und auch hier hat die Post pünktlich geliefert. Der Einfachhalt halber hatte ich das Gros der Geschenke direkt ins Elternhaus schicken lassen.

„Dann sind diese Inline-Dinger in der anderen großen Kiste oben in der Butze“, spekuliert meine Mutter. Und die „Butze“ ist bei uns eine kleine Abstellkammer im Obergeschoss, wo ich nun hingehe, um mir einen Überblick über die Geschenke zu verschaffen.

Ich öffne die Tür und blicke ins Konsumgrauen. Ich sehe regalweise Pakete, ich sehe Taschen und bereits mit Nüssen und Süßwaren befüllte Teller.

„Warum stehen hier nur zwei Teller?“, rufe ich runter.

„WAAAAAS?“, ernte ich von meinter Mutter zurück.

Also noch lauter: „ZWEI TELLER! HIER STEHEN NUR ZWEI TELLER! KRIEGEN JAN UND HANNAH KEINE TELLER?“

„WAS DENN FÜR TELLER?“, ruft meine Mutter.

Mein Vater: „WER IST IM KELLER?!“

„TELLER! TELLLLAAAAAAAAAAA“, präzisiere ich.

„SCHNELLER?! Die Kartoffeln brauchen 20 Minuten, das geht nicht schneller!“, ruft mein Vater zurück.

„Die Kartoffeln?!“, höre ich meine Mutter sagen, „Du kochst jetzt schon das Essen?!“

„Ja, du hast doch im Auto eben noch gesagt, dass wir direkt die Kartoffeln aufsetzen, wenn wir nach Hause kommen!“, erklärt er sich.

„Ja, wenn wir vom Spaziergang nach der Bescherung nach Hause kommen!“, sagt sie.

„Ich dachte, wir essen vor der Bescherung!“, sagt mein Vater.

Das wiederum macht Jan Sorge: „Wir müssen erst bescheren, dann essen!“, betont er seine Ungeduld.

„Großer Gott! Muss ich es euch denn allen aufschreiben? Wir machen es seit 40 Jahren nach demselben Drehbuch! Erst Bescherung, dann essen! Vorher Spaziergang“, rufe ich runter.

„Aber haben wir letztes Jahr nicht erst gegessen, dann beschert?“, fragt mich leise, nahezu verängstigt meine Mitbewohnerin.

„Erst gegessen?! Herrgott, ich weiß es gerade auch nicht. Ihr bringt mich alle ganz durcheinander. Und hier stehen nur zwei Teller.“

„Ich glaube nicht, dass für uns Teller vorgesehen sind“, sagt meine Mitbewohnerin, „Die sind für die Kinder!“

„Ich bin ein Kind! Solange meine Eltern leben, bin ich hier das Kind. Heiligabend bin ich das Kind!“

„Ich fürchte, du wirst es auch darüber hinaus bleiben …“

Ich beschließe, die Bestückung der Teller zu probieren, da mich die kleinen Schoko-Küchlein reizen.

„Wenn du jetzt einen davon isst, hat eines der Kinder einen weniger“, gibt meine Mitbewohnerin zu bedenken.

„Es gibt hier mindestens ein Kind, das offenbar gar keinen Teller bekommt … aber ich kann ja von beiden Tellern ein Schoko-Küchlein probieren, dann passt es wieder.“

Ich schiebe mir den einen halb rein, starte den Kauvorgang und … würge.

„Grundgütiger! Was ist das denn?! Das sind … das sind Marshmallows in Schokoladenguss. Was für ein widerliches Zeug! Dieser neumodische Kram hat in meinem Drehbuch nichts zu suchen!“

Ich lege die angebissene Hälfte wieder zurück auf den Teller und widme mich den Geschenken.

„Wir werden alles auf einen großen Haufen werfen müssen und dann stürzen sich alle drauf. Es ist alles schon eingepackt, woran erkenne ich denn nun, was für mich ist?!“

Von Rufen aus der Küche werde ich aus meinen Gedanken gerissen.

„Das Fett brennt!“, ruft mein Vater, „DAS FETT BRENNT!“

Ich blicke meine Mitbewohnerin an: „Möge Gott uns allen beistehen. Ist es denn zu viel verlangt, eeeeinmal besinnlich Weihnachten zu feiern? Woanders brennen traditionell die Weihnachtsbäume, hier aber muss es direkt die ganze Küche sein!“

Meine Schwester eilt offenbar in genau die und bekommt die brennende Pfanne rechtzeitig in den Griff. Ihr Mann, mein Schwager, ist Feuerwehrmann.

„Du machst jetzt schon das Fleisch?!“, höre ich meine Mutter sagen, als ich wieder nach unten komme.

„Ja, die Kartoffeln sind gleich fertig“, rechtfertigt sich mein Vater.

„Warum ist Opa so dreckig im Gesicht?“, fragt jetzt Hannah, die dazukommt.

„Das ist Ruß. Mir ist das Fleisch etwas angebrannt“, erklärt mein Vater seelenruhig, während meine Schwester mit der Löschdecke herumwedelt. Und ein bisschen stolz ist er auch, denn der neue Herd der neuen Küche, „der hat ordentlich Power! Da muss man nicht stundenlang warten, bis die Platte heiß ist! … Ich gehe mir mal das Gesicht waschen.“

„Müssen wir jetzt erst essen, bevor wir Bescherung machen?“, fragt sehr besorgt Jan.

„Ich glaube, wir müssen gar nicht essen“, stellt meine Schwester resigniert fest, die zwar Küche und Haus retten konnte, nicht aber das Fleisch.

„Nice!“, sagt mein Neffe, denn in diesem Alter sagt man das bereits, was meinen Unmut hervorruft.

„Du kannst dich stattdessen mit glasierten Marshmallows vollstopfen“, sage ich.

„Nein, bitte nicht, dann kotzt er wieder die ganze Nacht“, warnt meine Schwester.

„Wie? Du hast doch gesagt, für die beiden solle ich Marshmallows kaufen!“, meine Mutter leicht empört.

Keine Marshmallows, hatte ich gesagt.“

Inzwischen ist es dunkel draußen, die Stimmung könnte also weihnachtlich werden. Wäre da nicht das Geschenke-Chaos. Mit meiner Mutter stehe ich vor der Butze und wir versuchen, die eingepackten, aber nicht beschrifteten Geschenke zu identifizieren, um sie nach Empfänger zu ordnen. Denn nun beginnt das Bestücken des Gabentisches.

Als wir noch Kinder waren, also richtige Kinder, wurde dazu immer noch die gläserne Wohnzimmertür mit einer Decke verhängt. Meine Eltern weigern sich inzwischen, das zu tun, auch wenn mein Drehbuch das eigentlich vorsieht.

Meine Mutter drückt mir drei Geschenke in die Hand, von denen sie glaubt, diese zum ersten Mal zu sehen: „Die waren gestern noch nicht da“, sagt sie, was ich so stehenlasse, obwohl ich es für eine Lüge halte. Ich bin mir relativ sicher, dass es meine sind, die an meine Mitbewohnerin gehen sollen.

„Die bitte mit runternehmen und auf der südlichen Tischmitte platzieren“, instruiere ich besinnlich.

„Südliche Mitte?!“

„Die Seite zum Wohnzimmerfenster hin. Das ist Süden. Und diese Geschenke hier, die schenkt ihr mir“, sage ich und reiche ihr einen weiteren Haufen, „Die also östlich der südlichen Mitte platzieren. Ich tue dann auch überrascht. Und dieses hier ist dein Tischkalender ‚Eine Reise durch Deutschland‘. Den also auf deinem Platz platzieren.“

„Wo ist mein Platz?“

Meine Stirnadern treten pulsierend hervor.

„Seit 40 Jahren feiern wir auf dieselbe Weise Heiligabend und du weißt nicht, wo dein Platz ist?“

„Ich finde das nicht so wichtig!“, sagt sie gelassen.

„Es IST wichtig! Es ist doch eine Tradition!“, empöre ich mich, „Nordwestseite. Zur Küche hin.“

Nach wenigen Minuten ist meine Mutter mit einem Berg von Geschenken beladen, während ich kein einziges in den Händen trage, als wir die Treppe heruntergehen. Meine Mitbewohnerin sieht das:

„Du lässt alles deine Mutter tragen?!“, fragt sie.

„Ja, ich würde ja selber tragen, aber offensichtlich muss hier einer ja den Überblick behalten. Es hält sich niemand ans Drehbuch!“

„Ich habe alles in Geschenkpapier gewickelt, was die Post geliefert hatte“, murmelt leise meine Mutter, die als Geschenkeberg ausgerechnet die letzte Stufe der Treppe verfehlt und auf den Boden krachend im Flur eintrifft. Mein Vater kommt erschrocken aus der Küche herausgerannt und sieht meine Mutter auf einem Berg von Geschenken liegen.

„Großer Gott! Die Glaskaraffen!“, ruft er, „Es stand extra drauf ‚zerbrechlich‘!“

„Ja, glaubst du denn, ich werfe mich mit voller Absicht auf die Geschenke?!“, sie empört.

„Also im Drehbuch steht davon jedenfalls nichts“, sage ich und ziehe die vermeintlich zerbrechlichen Geschenke unter meiner Mutter hervor, um zu retten, was zu retten ist.

„Hilf ihr doch hoch!“, sagt meine Mitbewohnerin, die das dann übernimmt.

Gegen sechs Uhr ist der Gabentisch nun endlich bestückt. Ein erster Überblick zeigt mir, dass wir 2019 übertreffen werden. Ich blicke zufrieden drein.

„Die Menge entscheidet doch nicht“, sagt meine neben mir stehende Mitbewohnerin, „Es geht doch um andere Dinge.“

„Nun, der materielle Gedanke schließt den immateriellen ja nicht aus. Wir haben das große Glück, uns auf beiden Ebenen reich beschenken zu können! Lieben kann ich das ganze Jahr über. Reich beschenken macht man nur einmal!“

Wir werden von meiner Mutter unterbrochen, die entsetzt aus der Küche stürmt: „Ja hast du die Kartoffeln die ganze Zeit jetzt auf dem Herd stehen gelassen?!“, fragt sie Richtung meines Vaters.

„Nach dem Feuerzwischenfall hielt ich es für angebracht, mich am Herd etwas zurückzuhalten. Wenn man in meinem Alter die Küche in Brand steckt, findet man sich ruckzuck im Altenheim wieder. Nicht mit mir!“

„Gibt’s jetzt gar nichts zu essen?!“, fragt Hannah.

„Püree, Hannah, Püree mit Marshmallows …“, sagt meine Schwester leise und auch etwas traurig.

„Nice!“, sagt Jan.

Die Gesamtstimmung ist so kurz vor der Bescherung nicht unbedingt auf ihrem Höhepunkt angekommen, so wie ich es eigentlich vorgesehen hatte. Im Gegenteil. Meine Mutter holt aus zu dem Spruch, der jedes Jahr kommt und somit doch irgendwie auch zu meinem Drehbuch gehört:

„Nächstes Jahr fahre ich über Weihnachten weg.“

Na geht doch, denke ich.


Ich wünsche Ihnen allen noch ein schönes Weihnachtsfest und lege Ihnen „Eklat an Heiligabend 2016“ nahe, das übrigens der meistgeklickte Artikel im seppolog ist.