
Nachdem der Versuch, meinen Körper zu verlassen, gescheitert war, verfluche ich den ganzen Eso-Müll und denke zurück an einen Arzt, einen Orthpäden, den ich vor vielen Jahren einmal wegen meines Tinnitus aufsuchte.
„So sehen Sie mir auch aus, dass Sie meditieren! Vergessen Sie das, Sie sind mehr der körperliche Typ.“
Das gefiel mir, denn er hatte Recht.
Ende 2009 hatte ich zwei Hörstürze. Klingt dramatischer, als es ist. Also nicht falsch verstehen: Es ist ein Drama, aber der Prozess selbst irgendwie nicht. Zuvor hatte ich mir unter dem Begriff „Hörsturz“ etwas sehr schmerzhaftes vorgestellt, das über einen schlagartig hereinbricht, das den Namen „Sturz“ verdient hat. Dem ist mitnichten so. Als Unwissender merkt man zunächst gar nicht, was da los ist im Ohr.
Es begann mit dem Gefühl, dass manch einer kennt vom verstopften Ohr: Man hört etwas schlechter und ahnt, da steckt ein deftiger Pfropfen Ohrenschmalz fest. Also dachte ich mir zunächst nichts dabei, als ich genau dieses Gefühl hatte. Linkes Ohr.
Spulen wir ein, zwei Tage vor: Das Ohr pochte irgendwie und ich hörte Geräusche, die nicht da waren; extrem laute Maschinengeräusche, so würde ich es beschreiben. Man wird wahnsinnig, denn diese Geräusche übertönen die wirklichen Klänge des Lebens. Spätestens nun war klar, hier stimmte etwas nicht. Schmerzen jedoch hatte ich immer noch keine, ging dennoch zu einer HNO-Ärztin, denn ich wiederhole: Man wird im Wortsinne wahnsinnig, wenn man permanent laute, krachende Geärusche vernimmt, die nicht da sind.
Die Ärztin sagte unmissverständlich: „Herr Flotho, wir können hier nichts tun. Sie haben einen Hörsturz.“
Tatschlich kann man einen Hörsturz nicht behandeln. Aus Verlegenheit kann man sich Infusionen geben lassen, die ganz klar nichts ausrichten. Man wird auch vor eine Rotlichtlampe gesetzt, was de facto nichts bringt. Darum zahlt es auch keine Krankenversicherung. 20 Euro blätterte ich pro Infusion hin, täglich und zwei Wochen lang. Es kam dann der zweite Hörsturz, nun rechtes Ohr. Ich ließ die Sache dann mit den Infusionen, sie schienen mir wenig erfolgversprechend und war froh, nicht noch ein drittes Ohr zu haben.
Ein Hörsturz kann Folgen haben, muss er aber nicht. Er kann sich auf das im Ohr liegende Gleichgewichtsorgan auswirken, muss er aber nicht. Bei mir war das bislang zum Glück nicht der Fall. Denn dann wird es wirklich dramatisch: Man kann dann sein Gleichgewicht nicht mehr halten. Eine weitere Folge: Hörverlust. Die ersten Hörtest-Ergebnisse nach meinen Hörstürzen waren niederschmetternd. Links war ich praktisch taub, erst nach einigen Wochen kam das Hörvermögen wieder. Nicht immer kommt es wieder und ganz vollständig ist es bei mir nicht. Ich empfehle immer, mich zur Sicherheit anzuschreien, wenn mir jemand etwas wirklich Wichtiges mitteilen möchte. Alles andere nicke ich so weg, ohne es wirklich verstanden zu haben.
Seit den Hörstürzen höre ich strenggenommen mehr als vorher. Denn vorher hörte ich nie dieses hochfrequente Fiepen, das ich seitdem permanent und rund um die Uhr höre. Mal weniger stark, mal so stark, dass es reale Klänge übertönt, was dann anstrengend wird. In den ersten Tagen nach den Stürzen hatte ich Probleme, die Herkunft von Geräuschen zu erkennen, da ich links noch taub war. Ich war der Fähigkeit beraubt, stereo zu hören. Alles, was ich hörte, erreichte mich von rechts – auch wenn es von links kam und das hatte zur Folge, dass ich nicht mehr erkennen konnte, was von links und was von rechts kam. Das so genannte „Cocktail-Party-Phänomen“ war bei mir ausgeschaltet. Dies beschreibt, dass der Mensch selbst bei lauter Kulisse sich auf bestimmte Gespräche konzentrieren und das akkustische Drumherum ausblenden kann. Ich konnte es nicht mehr: Alles, was mein Ohr erreichte, war ein Einheitsbrei. Filtern war unmöglich und zu wissen, wann jemand mich ganz direkt anspricht, ebenfalls. Das verursacht einen enormen Stress, der unvorstellbar ist. Sie hören zwar noch etwas, können mit dem Gehörten aber nichts mehr anfangen. Seitdem bin ich extrem lärmempfindlich und meide laute Menschen. Vielleicht beginne ich auch deshalb meine Tage um vier Uhr: wegen der Stille.
Ein Tinnitus kann nach einiger Zeit verschwinden, muss er aber nicht. Er kann so laut sein wie ein vorbeirrauschender ICE, muss er aber nicht. Ich habe also Glück, denn meiner fiept nur. In etwa so wie die früheren Testsignale der bunten Fernseh-Testbilder.
Ich ertrage ihn aus zwei Gründen. Zum einen nehme ich ihn den Großteil des Tages nicht wahr, da man sich daran gewöhnt. Klar gibt es Abende, an denen ich im Bett liege um einzuschlafen, wo ein Fiepton zum Problem wird. Aber – und das zum anderen – könnte ich an schlimmeren Dingen leiden. Wenn Ihnen ein Arzt aber Hoffnungen macht und verspricht, ihn irgendwann in Gänze nicht mehr wahrzunehmen: Vergessen Sie’s. Kein Tag vergeht, an dem ich ihn nicht mindestens einmal sehr bewusst wahrnehme. Die Nase mag sich an Gerüche gewöhnen, das Ohr gewöhnt sich nicht an Testbildtöne.
Vor einigen Wochen hatte ich meinen dritten Hörsturz. Nicht falsch verstehen: Ich jammere hier nicht. Im Gegenteil, ich muss schmunzeln, wenn ich an die Situation denke, in der er mich heimsuchte. Ich stand vor einem wichtigen Gespräch mit meiner Chefin. Und hier möchte ich direkt reingrätschen, denn nicht das war die Ursache des Hörsturzes, wie mir Hobbyärzte gerne diagnostizieren. Überhaupt macht es mich wütend, wie Laien sich aufschwingen, mir zu sagen, warum ich einen Tinnitus habe. Denn selbst studierte Experten kennen die Ursachen nicht. Jedenfalls ging ich in dieses Gespräch und stellte fest, dass ich nur einseitig hörte und sich alles etwas schwurbelig anfühlte. Es dauerte, bis ich begriff, dass ich gerade einen Hörsturz hatte. Nach so vielen Jahren war ich nicht darauf vorbereitet und so saß ich vor meiner Chefin und nickte vor mich hin, obwohl ich keine Ahnung hatte, was gerade so um mich geschah.
Dieser Hörsturz war harmlos. Er zog innerhalb von drei, vier Stunden von dannen und damit war die Sache erledigt. Das Hörvermögen kam relativ schnell wieder zurück wie auch mein gewohnter Tinnitus, der dadurch nicht etwa lauter geworden war. Er war und ist bis heute wie immer. Zum Arzt bin ich auch nicht gegangen, denn nach wie vor können sie nur Verlegenheitsbehandlungen durchführen, für die ich mich in kein Wartezimmer setze.
2009, das war die Zeit, als eine Art Musiktherapie der neueste Schrei in der Tinnitus-Behandlung war. Im Kern und verkürzt dargestellt befeuert man seine Ohren mit dem „Negativ“ des Geräusches, das der Patient als Tinnitus wahrnimmt. Das solle auf Dauer dazu führen, dass das Gehirn den Tinnitus ausblendet. Nochmal: Das ist eine sehr verkürzte Darstellung. Inzwischen weiß man, dass diese Therapie gewissermaßen totaler bullshit war. Da die Fachwelt nach wie vor nicht genau weiß, was Tinnitus eigentlich ist, ist eine Behandlung schwer. Und glauben Sie mir, ich habe mich eingelesen. Ich weiß um die verschiedenen Theorien und so weiter, ist mir alles klar. Ein Betroffener kennt sich da aus, das können Sie mir glauben. Und deshalb macht es mich als Betroffenen auch wahnsinnig, wenn mir Nicht-Betroffene Diagnosen stellen, weil eine Cousine einer Nachbarin auch einen Tinnitus habe. Lassen Sie mich kurz einmal aggressiv werden: Wenn mich noch einmal jemand fragt, ob ich Stress habe, denn der sei ja die Ursache von Tinnitus, dann werde ich demjenigen versprechen, dass er eine Menge Stress, und zwar körperlichen, bekommen wird, nachdem ich ihm links und rechts einen vor die Mappe gegeben haben werde.
Mir ist klar, Stress kann sich physisch auswirken. Aber Stress ist erstaunlich oft dann die Ursache, wenn man keine körperliche findet. „Na dann muss es wohl Stress sein“ – am Arsch. Ich hingegen gehe davon aus, dass der Mensch eben noch nicht alles erforscht hat und wir womöglich erst in zehn, zwanzig oder hundert Jahren die Ursache eines Hörsturzes und Tinnitus kennen. Und ja, ich weiß, eine verschleppte Nasennebenhöhlenentzündung kann einen Hörsturz verursachen – war bei mir halt nicht der Fall. Aber nur weil mir eine Ursache nicht bekannt ist, denke ich mir keine aus. Ein solches Denken würde zu Religionen und Verschwörungstheorien führen. Der Mensch sollte akzeptieren, dass er zwar vieles, aber nicht alles weiß.
Ich hatte natürlich mehr als eine Ärztin aufgesucht. Und natürlich habe ich auch Tinnitus-Experten aufgesucht. Sie alle haben mir deutlich gemacht, dass es weder eine klare Ursache noch eine Behandlung gibt. Bei einem Hörsturz gilt: Ruhe bewahren, Nickerchen machen. Wer allerdings seinen ersten hat, sollte zum Arzt gehen. Denn es muss ja kein Hörsturz sein, könnte ja auch ein Schlaganfall sein. Wenn’s dann aber ein Sturz ist, seien Sie nicht verunsichert, wenn er nicht behandelt wird. Ich war damals sehr irritiert, denn man ist ja daran gewöhnt, dass Ärzte irgendetwas tun, wenn auch nur, um es abrechnen zu können. Mir hatte man Druckluft durch die Nase geschossen, hätte ja eine Verstopfung vorliegen können. War natürlich nicht so. Für mich ist es einfach so, dass aus unbekannten Gründen in meinen Gehörgängen etwas zu Bruch gegangen ist. In der Folge missinterpretiert mein Hirn etwas als Fiepen. Denn dieses Fiepen ist nicht da. Also wenn Sie mal Ihr Ohr an meines legen, werden Sie kein Fiepen wahrnehmen, das in meinem Ohr stattfindet. Dieses Fiepen habe ich exklusiv für mich.
Und weil ja Stress die Ursache für all das ist, was sich niemand erklären kann, empfahl eine Ärztin mir Meditation. Mir ist vollkommen klar, dass Meditation eine supi Sache und für viele der Weg zum Glück ist. Für mich aber: nicht. Ich meditiere jeden Morgen beim Laufen, ich brauche keinen Schneidersitz dazu.
Für die Laien-Doktoren unter Ihnen: Eine MRT und eine CT ergaben, dass mein Gehirn unbeschadet ist, ich habe kein Aneurysma. Es liegen auch keine chronischen Verspannungen im Nacken oder sonstwo vor. Und ich darf Ihnen einen wertvollen Tipp mitgeben, den ich in allen Bereichen körperlicher Malässen beherzige: Rennen Sie nicht permanent zu Ärzten. Ich finde das immer so lächerlich, pardon, aber das meiste geht von alleine weg. Und selbstverständlich meine ich nicht ernste Erkrankungen. Ein gebrochenes Genick, Krebs oder ein Schlaganfall sind sehr gute Gründe, sehr viele Ärzte sehr schnell aufzusuchen. Gehen Sie natürlich auch zur Vorsorge. Aber ich habe bis heute keinen Hausarzt, weil ich keinen Bedarf habe. Das ist natürlich auch großes Glück und kann sich jederzeit ändern, schon morgen kann mich eine markerschütternde Diagnose ereilen, da bin ich sehr demütig. Aber Arztrennerei macht vor allem eines: noch kranker. Ein Gros von kleinen „Krankheiten“ lässt sich locker wegignorieren.
„So sehen Sie mir auch aus, dass Sie meditieren! Vergessen Sie das, Sie sind mehr der körperliche Typ.“
Das also sagte der Orthopäde zu mir, der auch sagte, eine orthopädische Ursache liege wohl nicht vor. Und er sagte das, als ich noch ein Lappen war, da ich meinen Kraftsport erst Jahre später anfing. Seit dieser mein Laufen ergänzt, bin ich übrigens nicht mehr krank. Zwei bis drei heftige Erkältungen pro Jahr waren bei mir immer Standard. Ganze Kalenderkonzepte haben sich daran ausgerichtet. Inzwischen weiß ich, an einer Erkältung sterbe ich vermutlich nicht. Aber es gibt ja noch Millionen anderer Möglichkeiten.
Und nun kommt der nervigste aller Sätze derzeit, den ich aber auch hin und wieder benutze, wenn auch variiert: Bleiben oder werden Sie gesund.

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Muss echt nervig sein, so ein Gefiepse. Gut, dass du das Viech mit Laufen meistens im Griff hast!
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So ähnlich ging es mir vor zwei Jahren, als mein rechtes Auge beschloss, dass sein Glaskörper eine Revolte vollführen müsse, um endlich frei zu sein. ;-) Kurz: Ich erlitt eine Glaskörperabhebung, was nicht ganz ohne ist, da der sich lösende Glaskörper an der Netzhaut zieht und die Gefahr besteht, ein Loch hineinzureißen. Das Risiko, in Folge dieser Aktion zu erblinden, ist nicht gering. Angefangen hatte es mit einem grellen Blitz im Auge, einem Lichtbogen nicht unähnlich. Danach sah ich schwarzen „Schnee“ vor meinen Augen fallen. (Mein Augenarzt erklärte mir hinterher, dass dieser „Schnee“ in Wirklichkeit eine Blutung im Auge sei, verursacht durch den Zug des Glaskörpers an der Netzhaut – iih…) Das Ganze passierte – natürlich – abends. Am nächsten Morgen war ich beim Augenarzt… Zum Glück ging es glimpflich aus, aber ich war drei Wochen krankgeschrieben.
So wie Du ein für andere nicht vorhandenes Fiepen hörst, habe ich seitdem ganz tolle visuelle Phänomene im rechten Auge. Inzwischen zum Glück stark abgeschwächt, aber in der Anfangszeit konnte es schon einmal vorkommen, dass ich mich auf der Straße plötzlich duckte, weil vermeintlich ein Vogel direkt auf mich zugeschossen kam. Realiter war da kein Vogel – das Phänomen spielte sich lediglich in meinem Auge ab. Ich will gar nicht wissen, was Passanten dachten, wenn ich mal wieder erschrocken zusammenzuckte und mich wegduckte, ohne für sie ersichtlichen Grund. ;-)
Ich hatte auch mit vielen Hobbymedizinern zu tun und weiß, wie das ist… („Das liegt ganz sicher am Stress!“) Und beim Augenarzt traf ich einmal auf eine alte Frau, mit der ich ins Gespräch kam und die mir angesichts meiner Diagnose den Arm tätschelte und mir versicherte, der Einzige, der helfen könne, sei „unser Herr Jesus Christus“. Ich bin nicht gläubig, aber es war ja nett gemeint.
Das Ganze steht mir u. U. auch beim linken Auge bevor, aber ich trage es mit Fassung. So wie Du Deine Hörstürze. Ändern können wir es ja nun einmal nicht. :-)
Alles Gute und ein gutes neues Jahr!
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Danke für die Erzählung und ebenfalls ein gutes Jahr!
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„einen vor die Mappe geben“, was für eine blumige Beschreibung…
Apropos Tinnitus: Vor Jahren hatte ich mal einen, den ich wahrlich wegignoriert (gibt’s das Wort überhaupt?) habe. Im rechten Ohr klopfte es ca. alle zwei Minuten, dauerte dann etwa zwanzig Sekunden. Nach einem Jahr oder anderthalb ging Mister Klopfmann so, wie er erschienen war.
Ich versuche, nicht zu häufig an meinen Temporärmitmieter zu denken, sonst kommt der noch wieder…
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Der Satz „So sehen Sie mir auch aus, dass Sie meditieren! Vergessen Sie das, Sie sind mehr der körperliche Typ.“ wäre ein echter Grund mit dem Meditieren anzufangen.
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Deine Ohren,lieber Seppo, haben jeweils eine gewisse Zeit vorher etwas gehört was Deinem Gemüt –aber überhaupt nicht– gefiel. Nur Du weist was zu hören war. Wir Leser wissen es nicht.
Denn warum? tut die Ruhe und die Stille gut. Bleib auch Du gesund oder werde gesund.
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Das „Testbildgeräuch“ habe ich auch, nur die Beschreibung dieses Geräusches hat mir noch gefehlt, danke dafür. ;)
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Das „Testbildgeräuch“ habe ich auch, nur die Beschreibung des Geräusches hat mir noch gefehlt, danke dafür. ;)
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Hallo,
zu meinem T sagte meine damalige Hausärztin (ca. 2008): „Ich kann Ihnen nur raten, sich mit dem T anzufreunden.“ Wunderbarer Trost, davon kann ich die nächsten 1000 Jahre profitieren.
Das Merkwürdige daran: Ihre Erklärung oder die Diagnose waren wirklich so erschöpfend ausführlich, dass ich meinem Fragezeichengarten kein einziges mehr hinzufügen musste. Ärzte. Ärztinnen.
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