zwiebeln

Die Tradition will es, dass meine Mitbewohnerin und ich auch nach elfeinhalb Jahren noch nicht nur das Volljährige, sondern auch das Halbjährige zelebrieren. Auf die Weise vergisst man auch das Datum der Zusammenkunft nicht, zumal ihre beste Freundin auch am neunten Juli Geburtstag hat.

„Lavi hat übrigens am übermorgen Geburtstag!“, sagt sie mir dann immer.

Und auf die Weise weiß ich dann: Ah, Halbjähriges! Leichte Panik dann. Geschenk besorgen? Nein, nicht zum Halbjährigen. Das wären ja dann zwei Geschenke pro Jahr! Plus Geburtstag und Weihnachten! Da verlöre ich den Überblick. Also gehen wir lediglich gepflegt essen.

Viele Jahre war es Tradition, dass wir zum Jahrestag in Münster ins „Enchilada“ gingen. Weil ich sehr traditionsbewusst bin, bestand ich beim Reservieren des Tisches immer darauf, stets am selben Tisch zu sitzen wie in den Jahren zuvor. Ich kannte bereits die Tischnummer.

„Und zwar wäre es günstig, bekämen wir Tisch Nummer vier. Wenn man reinkommt ganz hinten rechts“, ich dann immer am Telefon. Denn es sollte so sein wie beim ersten Mal.

Mein Platz war immer direkt vor einer Wand; zwischen mir und Wand waren der Tisch und ein Stuhl, auf dem meine Mitbewohnerin Platz nahm, die ihrerseits einen besten Ausblick über das Restaurant hatte, während ich auf wahlweise sie oder eben die Ziegelwand hinter ihr starrte. Beides sehr schöne Anblicke, was für die Ziegelwand spricht, die es durchaus mit meiner Mitbewohnerin aufnehmen konnte. Doch einer Ziegelwand fehlen die weiblichen Züge einer Frau, die ich so sehr liebe. Aber ohne Wand geht es eben nicht. Dann könnte man ja gleich draußen dinieren, was zum Jahrestag Anfang Januar schlicht zu kalt wäre.

Gestern, zum Halbjährigen Jahrestag, war es heiß. Sehr heiß. Mehr als 30 Grad in Düsseldorf. Und ich bin um eine Erfahrung reicher: Scharfes Essen bei hochsommerlichen Temperaturen ist ein Liebesbeweis. Aber so toll Liebesbeweise sind, man muss sie ja nicht erzwingen.

Reserviert hatten wir auf eine seltsame Variante ihres Nachnamens einen Tisch beim Mexikaner. Der Deutsche isst ja immer „beim“. Gestern also „beim“ Mexikaner. Wir gingen zum beim Mexikaner essen.

Wie heiß es ist, wird mir erst bewusst, als wir zum Etablissement unserer Wahl gehen. „Google Maps“ prophezeite uns einen Fußweg von 17 Minuten. Wir kommen leicht zu spät, stelle ich fest, als mir schon beim Spaziergang zum beim Mexikaner die Suppe aus allen Poren schießt. Ich schwitze auch gerne im Schritt und im hinteren Bereich, wenn es so besonders heiß ist. Es fühlt sich immer ein bisschen so an, als hätte man geschurzt. Also, nicht dass ich wüsste, wie sich das anfühlt …

„Sitzen wir wohl draußen?“, frage ich meine Mitbewohnerin, die unfassbar gut aussieht.

„Vielleicht, ja. Gerne in der Sonne!“, sagt sie.

Großer Gott, in der Sonne, denke ich, das kann ich so gar nicht gebrauchen.

„Ist es schlau, bei so einem Wetter zum beim Mexikaner zu gehen“, erfrage ich, „andere Leute gehen jetzt Eis essen.“

„Andere Leute haben heute nicht Halbjähriges!“, erwidert sie.

„Andere Leute haben kein Halbjähriges. Ja“, stimme ich zu, während mir ein Schweißtropfen in den Mund rollt, der sehr salzig schmeckt. „Mein Salzverlust hält sich in Grenzen, ich trinke gerade meinen Schweiß.“

Wir erreichen den zum beim Mexikaner an der Bilker Allee in Düsseldorf und ich stelle befriedigt fest, dass wir nicht draußen sitzen werden können, da dort alles voll ist. Meine Begleitung sieht mich an und sagt (wobei ich nur glaube, dass sie mich ansieht, da ich durch ihre Sonnenbrille ihre Augen gar nicht sehe):

„Mal gucken, ob wir den Tisch bekommen. Als ich anrief, haben sie dreimal meinen Namen nicht verstanden und sich am Ende aus Verlegenheit einen ausgedacht.“

Man empfängt uns. Mit großem Hallo. Mein Promi-Status kommt hier wieder zum Tragen.

Später stelle ich fest, dass sie jeden so aufgeregt freudig begrüßen.

„Haben reserviert auf […]“, sagt meine Mitbewohnerin ihren Namen nennend. Und die freundliche Bedienung, die scheinbar gerne die Reste isst, führt uns zu einem denkbar kleinen Tisch in einer denkbar kleinen Ecke. Ich sehe auf einem Schildchen auf dem Tisch eine Variante des Namens meiner Mitbewohnerin geschrieben und lache. Immerhin stimmt die Anzahl der Silben überein. Aber das Lachen, das wird mir hier noch vergehen, denke ich, da das kleine Lokal schwer überheizt ist.

„Ich nehme an, du willst vor der Wand sitzen?“, meine Mitbewohnerin höflich.

„Ja, gerne. Niemand muss sehen, wie ich das Essen in meinem Bart verteile.“

Ich warte, bis sie sitzt, Gentlemen tun sowas, und setze mich dann auch. Blicke mich um, gucke nach oben und sehe:

„Eine Klimaanlage! Hervorragend!“

„Ja, ob sie das Teil auch einschalten?!“, meine Mitbewohnerin.

„Achso. Ja, das wäre natürlich nicht ganz unentscheidend.“

Im Folgenden geschieht etwas Erstmaliges: Meine Mitbewohnerin schlägt mir ins Gesicht. Nein, kleiner Scherz. Es ist viel schlimmer: Sie wählt ihr Menü schneller aus als ich! Erstmals in der Geschichte unserer Beziehung muss sie auf mich warten!

„Wie ist das möglich?!“, frage ich erstaunt, „Ich weiß bei der Hälfte gar nicht, worum es sich überhaupt an Speisen handelt!“

„‚Mixed Teller‘ verstehe ich.“, sie trocken.

Ich alles andere als trocken. Es tropft von mir herunter auf die Vorspeisen-Auswahl. Ich entscheide mich für die Vorspeise, auf die der Tropfen Schweiß gefallen ist. „Nachos Original“, kann man nicht viel mit falsch machen.

Ich hasse Zwiebeln und Tomaten.

Zwiebeln: Ich habe für alles Verständnis, aber nicht dafür, wie man Zwiebeln mögen kann. Die Konsistenz, der Geschmack! Der Geruch. Widerlich. Wenn meine Mutter früher gekocht hat, musste für mich zwiebelfrei gekocht werden. Fand ich dann doch mal Zwiebeln im Essen, sagte sie:

„Die schmeckt man doch gar nicht raus!“

„Ja, aber warum tust du sie dann überhaupt rein?!“

Totschlagargument. Zwiebeln rauspulen, weiteressen.

Tomaten: Miese Konsistenz, mieser Geschmack. Überflüssig.

Die Vorspeise besteht aus einem Berg Zwiebeln mit Tomaten. Darunter irgendwo die Nachos. Meine Mitbewohnerin isst also die Zwiebeln mit den Tomaten und ich die zwei Nachos. Erste Entgeisterung bricht sich Bahn.

„Immerhin nicht so scharf. Wäre ja blöd bei der Hitze. Merkst du, dass wir hier die einzigen sind? Die Leute gehen Eis essen!“, stelle ich fest.

Mein Burrito kommt. Er ist zwiebelfrei. Sie hat so einen Teller mit allem. Von jeder Speise ein bisschen. Ihre größte Sorge war, dass es eine große Platte mit Unmengen an Speisen ist. Ich befeuere ihre Sorge und liege richtig. Ich habe einen 25-Zentimeter-Burrito vor mir, sie gleich zwei davon und andere Dinge, die ich nicht identifizieren kann. Weil ich nur Zwiebeln sehe.

„Ich würde dir gerne etwas abnehmen, aber die vielen Zwiebeln!“

„Die schmeckt man gar nicht raus!“, sagt sie. Lügt sie.

Ich rate ihr: „Iss auf jeden Fall den Deko-Salat!“ So stand er in der Speisekarte beschrieben. „Mixed Teller mit Deko-Salat“. Auch ich habe einen Deko-Salat, der wirklich so aussieht, als sei er aus Plastik und ich ziehe das sogar kurz in Betracht des Möglichen.

„Darf man den Essen oder ist der wirklich nur Deko?“, frage ich. Aber wann esse ich schon mal Salat?! Also verschmähe ich ihn. Zumal es ein Tomaten-Zwiebel-Salat ist.

Mein Problem sind die Jalapenos, die sich als deutlich schärfer erweisen, als ich naiv angenommen hatte.

„Wir müssen dringend noch etwas zu trinken bestellen. Mein Hibiskus-Saft ist leer. …  Hallo? Handlangerin! Einen halben Liter hausgemachter Limonade bitte! Es eilt!“, rufe ich um Fassung ringend, während mir Salzlösung über die Stirn auf den Burrito tropft und ich meine Zunge nicht mehr spüre.

„Ist es scharf?“, erkundigt sich meine Mitbewohnerin.

„Es ist der Grad an Schärfe, der dem Ganzen hier die Schärfe gibt. Ich würde lachen, wenn ich nicht so leiden würde.“

Ich lache, weil du leidest!“

„Warum gehen wir bei diesem Wetter zum beim Mexikaner. Andere Leute gehen Eis …“

Wir essen weiter, ich exe meine hausgemachte Limonade, die schwer säurehaltig ist, was meinen Magen zusätzlich, sagen wir mal, besonders fordert.

Sie schiebt einen Mini-Taco unter ihren Deko-Salat, unter dem bereits ein Mini-Burrito liegt. Sie atmet schwer. Das kenne ich schon, ein deutliches Zeichen dafür, dass sie mehr als satt ist. An sich war sie schon nach der Vorspeise satt.

„Wir müssen durch die Hitze noch nach Hause gehen! Sollen wir uns zuhause ins Auto setzen und die Klimaanlage voll aufdrehen? Gott, wie herrlich das jetzt wäre!“

Wir zahlen und konstatieren, dass es das wohl mieseste Essengehen aller Zeiten war, was nicht an der Qualität der Speisen lag. 51 Euro haben wir bezahlt, der Hauptteil ging für die Getränke drauf. Hibiskus-Saft und hausgemachte Limonade.

„Wir werden uns immer an diesen Tag erinnern! Darum geht es doch!“, versuche ich, die Sache positiv zu sehen, während meine Hose an mir klebt. Und irgendwie am Stuhl, was ich beim Aufstehen bemerke.

„Wir essen heute nichts mehr“, sagt sie.

„Auf keinen Fall. Ich bin gespannt, wie mein Magen das noch so verarbeitet.“

Auf dem Weg zurück fahren Taxen an uns vorbei. Ich beneide deren Mitfahrer. Die haben bestimmt die Klimaanlage an. Und waren Eis essen.

Wieder zuhause stellen wir fest, dass wir eine angenehm kühle Wohnung haben.

„Ich verschwinde mal eben im Bad“, kündige ich an. Denn ich ersehne eine eiskalte Dusche und entledige mich meines durchnässten Hemdes. Sehe in den Spiegel und stelle fest, dass ich halbtot aussehe. Den Anblick mal zwei und man weiß, wie man tot aussieht, was man ja gar nicht wissen kann. Dieser Trick aber macht es möglich.

Nach dem Duschen gehe ich ins Wohnzimmer, wo meine Mitbewohnerin sitzt und ein Eis isst.


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Ich habe kein Foto von dem Burrito auf meiner Facebook-Seite gepostet!