gitter

„Man hat immer ein Lot vor den Augen, wenn man aus dem vergitterten Fenster in den Himmel blickt“, erzählt mir Reginald Rubis, den die Feuilletons dieses Landes möglicherweise nicht ganz zu Unrecht einen politischen Schriftsteller nennen. Und als Fan des deutschen Feuilletons, das sich durch eine große Vielschichtigkeit auszeichnet, die völlig unterschätzt ist in einer Welt von Google und Facebook,

which make me break in all rainbow colors – Daniel C. Hayet

stimme ich den Meinungsmachern, die genau das nicht sind, sondern Meinungsgestalter, gerne zu.

Reginald Rubis verbrachte große Teile seiner schreibenden Zeit als politischer Gefangener in diversen Gefängnissen seines Heimatlandes, das – wie das sooft der Fall unter repressiven Regimen ist – unzählige große Schreiber hervor-, aber eben auch umgebracht hat. Rubis ist der vermutlich einzige dieses Reigen, der nicht nur das Regime, sondern auch sein Werk überlebt hat.

„Sie sperren dich ja nicht nur ein. Wenn es nur das wäre, würde ich sie verlachen. Aber sie nehmen dir viel mehr. Sie sind perfide.“

Sein zweites Werk „Hinter den Brettern“ schrieb Rubis zur Zeit seiner ersten Gefangenschaft. Da konnte er noch. Doch seine zweite Internierung gestaltete sich problematischer.

„Du kämpfst natürlich mit Hunger, mit Erschöpfung. Aber dann hungerten sie meinen Geist aus. Es wundert mich, dass sie nicht viel früher auf diese Idee kamen. Wie naiv sie waren, als sie Schriftsteller noch einsperrten und ihnen eine Schreibmaschine gestatteten! Sie hielten ihre Gegner gefangen und doch konnten diese reden. Kalt und dumm war das Regime einst, dann wurde es kalt und clever. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.“

Rubis wurden soziale Kontakte nicht mehr gestattet: Weder traf er auf Besucher noch auf Mitgefangene.

„Ich war damit isoliert, aber viel schlimmer: Sie nahmen mir überdies jede Möglichkeit zu schreiben. Alles habe ich verkraften können, nicht aber das Unvermögen zu schreiben.“

Rubis erinnert sich an einen Wärter, der ihm nachts eine Schreibmaschine brachte.

„Ich glaubte, jener Wärter sei mir wohlgesonnen, aber ich sollte irren. Bewusst gab er mir kein Papier. Er wollte mich kalt quälen. So nah an der Möglichkeit zu schreiben, so weit dann doch entfernt.“

Für einen Schriftsteller sei das eine Form von Folter, die eigentliche Folter, die körperliche sei nichts dagegen.

„Ich stumpfte ab. Die Stromschläge wurden zum Witz. Ich nahm sie hin. Die Schläge auf meine Genitalien – ich nahm sie hin. ‚Verstümmelt meinen Körper‘, rief ich meinen Peinigern zu, darum wissend, dass sie meinen Geist nicht zerstören können.“

Pause.

„Aber zum Implodieren bringen können.“

Wie lässt man einen Geist implodieren?

„Sie wissen, dass du Gedanken hast. Dass es immer mehr Gedanken werden. Gedanken müssen raus. Wem sollte ich sie mitteilen bei der herrschenden Kontaktsperre? Aufschreiben konnte ich sie nicht mehr. Da ist dieser stetige Drang zu schreiben. Mit Wörtern zu jonglieren, Sätze zu komponieren, Opern zu erschaffen.“

Rubis Augen glänzen, während er dieses sagt. Was erstaunt, denn zu vielen Dingen findet dieser Mensch keinen Zugang, vieles ist ihm nahezu gleichgültig.

„Ich kann mich unmöglich für alles begeistern. Ich begeistere mich für vielleicht drei, vier Dinge im Leben, für die dann aber mit einer Leidenschaft. Und das Schreiben, das gehört eben dazu. Und wenn sie dir das nehmen, dann wissen sie sehr genau, was sie tun – und wissen es wiederum nicht, weil sie es gar nicht erfassen können.“

Rubis begann, „im Kopf zu schreiben“. Seine Gedanken haben anders gar nicht gekonnt, als permanent zu formulieren. Er begann, die Sätze laut auszusprechen, sie immer wieder zu reproduzieren, um sie letztlich auswendig zu lernen. Auf diese Weise entstand „Gitter-Seel'“.

„Ich habe 980 Seiten Text geschrieben, ohne ihn zu schreiben. Satz für Satz auswendig gelernt, nicht, weil ich Spaß daran hatte, sondern weil sie raus mussten, die Gedanken. Die Figuren, die ich schuf, sie mussten leben.“

1984, befreit aus der Gefangenschaft durch den UN-Botschafter Boris Shaft, lässt Rubis keine Zeit verstreichen, beginnt sofort damit, das in zwei Jahren Memorierte niederzuschreiben.

„So schnell habe ich noch nie ein Buch geschrieben!“, lacht Rubis und ergänzt, dass ihm dieses Gedächtnistraining jetzt, im hohen Alter, noch zugute komme.

„Fragen Sie mich, was im vierten Kapitel im vorletzten Satz steht, ich könnte es Ihnen sofort wortwörtlich sagen. Ich kann mein Buch noch heute auswendig.“

1989, im Jahr der großen Umbrüche, trifft Rubis seinen einstigen Peiniger, jenen Wärter, wieder.

„Genugtuung ist eines der schönsten Gefühle, muss ich gestehen. Er saß mir gegenüber, seine Füße am Boden angekettet, seine Hände am Tisch fixiert. Das Folge-Regime rächte sich am alten. Und ich rächte mich an ihm und erzählte ihm mein Buch. Ich las es ihm aus meinem Kopf vor. Und sagte dann: ‚Mein Freund, du hast mir das Schreiben nehmen wollen, aber dennoch schrieb ich ein Buch. Es ist mein bestes geworden. Und nun sitzt du hier in Ketten. Wer von uns beiden ist eigentlich der Geknechtete?‘ Und er hatte keine Antwort.“

Rubis erzählt, ein Mensch könne nach außen wie tot aussehen, während sich in seinem Kopf mehr Leben abspiele, als in den meisten anderen. Er spricht von Figuren mit seltsamen Namen, die ein kleines Universum bilden. Man versinke nicht darin, aber man trage es mit sich. Man treffe Menschen im wahren Leben und denke sich „Ach guck‘, der hat ja Ähnlichkeit mit deiner Figur!“ und finde Gefallen an der Schöpfung von Charakteren.

„Die haben auch immer eine Seite von dir selbst. Wenn uns Gott erschaffen haben sollte, dann tragen wir auch alle etwas Gott ins uns. Wenn ich eine Figur erschaffe, dann trägt sie auch immer ein bisschen von mir in sich.“

So auch sein Romanheld Frotzukin.

„Der ist vordergründig ein leichter Tollpatsch. Ganz bewusst habe ich ihn so angelegt. Und die Reaktionen seiner Mitmenschen sind erwart- wie berechenbar: Sie nehmen ihn nicht ernst, manch einer ist respektlos. Und das rächt sich. Weil Frotzukin seine Schlüsse daraus zieht und Leitungen kappt.“

Auf die Weise sei er Vorbild: nicht zerbrechen, sondern aufstehen. Nicht die anderen seien Maßstab, man selbst müsse sich dazu erheben.

„Auch da kommt Genugtuung ins Spiel. Die Szene, in der Frotzukin mit Großem überrascht, da kommen sie angekrochen, die, die ihn verlachten, sind plötzlich umgarnend, was bei ihm jedoch nicht verfängt, was er mit Freuden dann auslebt.“

Diese Thematik sei auch heute wieder aktuell in einer Welt, in der Anerkennung durch Klicks einen Wert habe, obwohl sie doch so wertlos sei.

Rubis schreibt noch immer. Bis zu seinem letzten Atemzug wolle er schreiben, es sich von nichts und niemandem mehr nehmen lassen.


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