juntuel

Ich kann noch so viel daransetzen, keine Menschen zu treffen, manchmal passiert genau dann und deshalb etwas noch viel Schlimmeres.

Es muss so im August 2017 gewesen sein, als ich beim Verstecken plötzlich auf eine wabernde Masse traf. Während mich in meine rechte Gesichtshälfte der einzige Zweig des Busches pikste, hinter dem ich mich versteckte, damit Rudine mich nicht sah, wurde es von links irgendwie kalt. Und dann doch warm. Und wieder kalt. Die Worte, die mir zur Verfügung stehen, vermögen nicht zu beschreiben, wie es sich tatsächlich anfühlte. Aber ich wusste in jenem Moment, da ist etwas. Irgendetwas Waberndes war da in der Luft. Unsichtbar, aber doch irgendwie da.

„Hallo?“

Das sagte nicht ich. Das sagte dieses Etwas. Und es fuhr fort:

„Warum bin ich tot?“

Wenn man Stimmen hört, wo keine Schallquelle zu sehen ist, setzt man an seinem Verstand an, den man recht zügig in Frage stellt. Ich nehme und nahm auch damals im kommenden August für mich in Anspruch, völlig klar zu sein, sieht man einmal davon ab, dass ich hinter einem einzweigigen Busch saß, um nicht von Rudine gesehen zu werden. Aber wenn ein waberndes Etwas zu einem spricht, hält man es für viel wahrscheinlicher, dass man den Verstand verloren hat, als dass wirklich etwas Waberndes zu einem spricht. Und exakt diesen Verlust meines Verstandes hatte ich in sechs Monaten in Betracht gezogen.

Nun ist eines aber auch klar: Wenn ich Stimmen hörte und auch durchaus wüsste, sie kömmten aus meinem Kopf ohne meine Lippen zu passieren, also wüsste, dass sie Einbildung wären, wäre ich mir dennoch nicht zu schade, mit ihnen zu sprechen. So als Gag einfach. Tat ich auch damals:

Bist du denn tot? Ich meine, du sprichst ja zu mir!“

„Ja, das ist komisch. Aber ich bin ja auch nicht da!“

„Hast du einen Namen?“

„Juntualt137l.“

„Was?“

„Achso, Juntuel, aber mit E-Pünktchen. Du musst <alt> und dann die Ziffernfolge ‚137‘ tippen. Dann klappt es.“

„Du heißt also Juntuël?“

„Ja. Das zumindest weiß ich. Aber ich bin tot. Warum nur?“

„Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass Tod nicht endgültig ist, wenn er vor der Geburt stattfindet?“

„Du meinst, ich bin noch gar nicht geboren worden?“

„Ja. Das halte ich für möglich. Gibt es etwas, an das du dich erinnern kannst?“

Die wabernde Masse schien zu überlegen, da sie sehr hochfrequentiert waberte.

„Ich erinnere mich an nichts.“

Aber an seinen Namen kann er sich erinnern, dachte ich, überging diesen Punkt jedoch, da Rudine noch immer auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand und einfach nicht weiterging.

„Geh doch endlich, du Schl-“

„Wer gab mir meinen Namen?“

„Ja, hab ich eben auch überlegt. Aber die Tatsache, mit einer wabernden, unsichtbaren Masse zu sprechen, finde ich viel fragwürdiger, der Frage also würdiger. Siehst du eigentlich etwas? Weißt du, wo du bist?“

„Um mich ist nichts. Aber ich spüre die Menschen deiner Welt, wenn ich auf einen treffe. Sehen tue ich dich aber nicht. Ich atme deine Aura.“

„Könnte das zum Problem für mich werden, Juntuël?“

„Nein, ich atme auch wieder aus. Deine dann gereinigte Aura.“

„Dann atme mal tief ein und aus … Wie atmet sich so meine Aura?“

„Es gibt bessere. Aber auch schlechtere.“

„Weißt du, was interessant wird, Juntuël? Wenn du geboren wirst und wir uns treffen. Du wärst natürlich erstmal strunzdumm, weil Säugling. Na ja, wir würden uns wohl auch nicht erkennen. Gibt es da, wo du bist, noch mehrere?“

„Ja. Wir halten uns alle für tot. Also für post-Leben-tot. Wenn ich den anderen hier von deiner Theorie erzähle, hebt das natürlich enorm die Stimmung.“

Ich wollte von Juntuël wissen, ob er schon lange dort sei, wo er gerade war. Er darauf:

„Ich kann mich nicht erinnern. Ich bin einfach da. In einer endlosen Abfolge von Jetzts ohne Ebens.“

„Siehst du, dass ich hinter einem Busch hocke?“

„Nein. Warum tust du das?“

„Wegen Rudine. Sie steht auf der … nein, wo ist sie hin? Sie ist weg! Ich kann aufstehen!“

Also stand ich auf und sofort verschwand das wabernde Gefühl an meiner Wange.

„Juntuël?“

Es kam keine Antwort. Zumindest nicht von ihm. Dafür aber von Rudine:

„Seppo? Warum hocktest du hinter dem Busch?“

„Äh, schwieeeerig jetzt. Das ist ausgesprochen anspruchsvoll zu erklären.“

„Ach, und ich bin zu blöd, um das zu verstehen?!“

„Ja, wenn du schon so fragst. Wobei ich es selbst nicht verstehe.“

„Du wolltest dich vor mir verstecken, oder?“

„Nein, mir war mein Gesicht runtergefallen, ich wollte es aufheben.“

„Du bist und bleibst ein Arschloch, Seppo!“, sagte Rudine und ging beleidigt von dannen. Gelungenes Wiedersehen, dachte ich und schmunzelte über die mir wieder einmal völlig entglittene Situation.

„War das Rudine?“, hörte ich plötzlich wieder Juntuël fragen.

„Äh, ja. Sie ist etwas schwierig. Sie zieht möglicherweise bald in unser Haus ein. Ist was frei seit jenem Montag im Februar dieses Jahres. Ach verdammt, ich komme mit den Zeiten völlig durcheinander. Also es ist eben was frei geworden und sie will da einziehen. Ich soll bei meinem Vermieter nun ein gutes Wort … Was rede ich eigentlich mit einer wabernden Masse?!“

„Ich will geboren werden, Seppo. Ich bin tot.“

Kurz hatte ich Sorge, er hätte Rudines Ausgang als Eingang in diese Welt in Betracht gezogen, doch ihn beschäftigte eine andere Frage:

„Ist es da gut, wo du bist?“, will er wissen.

„Du meinst, lebend auf der Welt? Nun, ich neige ja dazu, mich stets für glücklich zu befinden. Ich bin relativ gesund, bis zuletzt auch im Geiste, leide keinen Hunger und bewege mich unauffällig durch die Mittelschicht. Ich bin zufrieden, neide niemandem etwas, weil ich mich seit einiger Cait meiner Stärken besinne, habe kaum Ärger am Halse, also nee, alles gut. Hier kann man es aushalten. Wie ist es da, wo du bist?“

„Es ist kalt“, antwortete Juntuël, „es ist so unentschieden alles.“

„Kann aber doch nett sein. Ich meine, du waberst so vor dich hin, hast keine Verpflichtungen, nichts belästigt dich mit irgendwas, keine Konflikte …“

„Aber kann das glücklich machen, Seppo?“

„Du kennst meinen Namen!“

„Rudine sagte ihn.“

„Ach, diese Fo-, sag mal, Juntuël, du weißt schon, dass es mich nervt, deinen Namen permanent zu schreiben?! Mit diesem <alt> und <137>?! Aber mal was anderes: Kannst du beeinflussen, wo du bist und wo nicht? Also was, wenn ich jetzt weggehe?“

„Du denkst falsch, Seppo.“

„Ach?“

„Ja. Es ist völlig irrelevant, wer wo ist. Man ist ja da. Gehe ein paar Schritte und du wirst feststellen, dass du da bist. Und ich auch.“

Und ich ging ein paar Schritte. Erst eine Minute, dann fünf und nach einer Stunde blieb ich stehen.

„Siehst du, Seppo?“


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