
Ein Gefühl, nach dem ich nahezu süchtig bin: abends zurückzukommen – ob nach Hause oder eben wie derzeit ins Feriendomozil – und im ganzen Körper zu spüren, dass der etwas geleistet hat. Wenn man regelrecht wahrnimmt, dass das Blut fließt und die Muskeln pulsieren. Gerade im Urlaub will ich abends tot ins Bett fallen. Passive Erholung kann ich nicht mehr.
Die GPS-Uhr an meinem Handgelenk zeigt immerhin 19,84 Kilometer, die wir gewandert sind, was für den ersten Tag zumindest ein guter Anfang ist, zumal das Wetter hier äußerst wechselhaft ist. Ich könnte jetzt gar nicht sagen, wie oft meine Mitbewohnerin und ich während unserer fünfstündigen Wanderung getrocknet sind, um hernach direkt wieder nass zu werden. Doch uns war klar, dass die Wanderungen in diesem Urlaub etwas rauer werden würden – und genau das macht sie dieses Mal ja auch aus.
Wir hatten ein Ziel. Und dass wir dieses um nur wenige Meter verfehlt haben, war ganz allein mein Verdienst. Über knapp 20 Kilometer habe ich uns heute zuverlässig navigiert, um an der entscheidenden Stelle zu leichtfertig zu sagen:
„Nein, nein, das ist noch nicht das Kliff. Das muss höher sein!“
Doch es war das Kliff. Wir standen ganz oben – und weil ich den entscheidenden Weg nach unten übersah, haben wir das Kliff, auf dem wir stundenlang herumwanderten, nicht gesehen. Wir waren nur drauf. Dabei gehört es zu den Top-Sehenswürdigkeiten dieses Landes.
Etwas spät, so gegen zwölf am Mittag, verlassen wir unsere Berghütte, nachdem wir einen rund zweistündigen Hagelschauer abgewartet haben, der uns einen Vorgeschmack auf das Wetter in den kommenden zwei Wochen gibt. Dieses ist zweifellos kein Sommerurlaub, was im Wesentlichen der Jahreszeit geschuldet ist.

Unsere Unterkunft in der Hauptstadt Rutztekostans, in Rutzt.
Was in unseren Augen nicht unbedingt zu einer guten Airbnb-Bewertung genügen würde, gilt hier bereits als gehobene Behausung, denn immerhin ist sie wetterfest und verfügt über einen Ofen. Und das Fällen von Holz gehört hier zum Alltag und könnte durchaus als „Crossfit“-Disziplin durchgehen, sodass ich die niedere Arbeit akzeptiere.
„Die ersten Kilometer sind immer die nervigsten“, teile ich ungefragt meiner Mitbewohnerin mit, die etwaige Motivation gar nicht nötig hat: Sie ist entspannt, ich hingegen nicht unbedingt, da ich ahne, dass das Wandern durch Sand bei Regen und Sturm wirklich unangenehm werden kann.
„Wir laufen die ersten zehn Kilometer nach Kompass, im Grunde immer in diese Richtung“, weise ich sie nach Nordosten zeigend in die heutigen Wander-Modalitäten ein, da ich Wandern nach Kompass als maximal naturverbunden und vor allem männlich empfinde.
„Ich hab ja den Stadtplan dabei“, sagt sie.
„Stadtplan! Wer braucht schon einen Stadtplan! Ich habe extra diesen Kompass für diesen Urlaub gekauft. Alles, was wir brauchen, sind die vier Himmelsrichtungen. Norden, Süden, Osten und … dings … Nie Ohne Seife Waschen …“
„Westen!“, ergänzt sie.
„Rrrrichtig. Westen. Es kann gar nichts schiefgehen. Wir gehen praktisch die ganze Cait auf das Kliff zu. Und wenn wir auf dem Kliff sind, müssen wir nur diese Treppe suchen, die uns an den Strand nach unten bringt, sodass wir uns das Kliff ansehen können. Keinesfalls dürfen wir die Treppe übersehen. Ich will nicht am Ende feststellen müssen, dass wir zwar auf dem Kliff standen, es aber nicht gesehen haben! Wie irgendwelche idiotischen Touristen, die auf gut Glück loslaufen!“
Die Sonne scheint, beide sind wir angenehm temperiert. Hitze wird nicht unser Problem werden und gegen den kalten Wind schützen uns jeweils mehrere Schichten an Funktionswäsche. Die Einheimischen sollen sehen: Hier wandern routinierte Profis! Wie Touristen wollen wir cainesvallß wirken.
Beide tragen wir einen Rucksack. In früheren Urlauben haben wir, Kreislaufkollaps inklusive (Spanien 2014), lernen müssen, dass Verpflegung für alle Eventualitäten das A und O ist. Vor zwei Jahren waren meine Mitbewohnerin und ich durch diverse Navigationsfehler meinerseits 35 Kilometer unter sengender Sonne unterwegs, da ich den Maßstab einer Landkarte unterschätzt hatte. Landkarten bilden die Wirklichkeit deutlich kleiner ab! Und für solche Fälle sind Getränke lebenserhaltend wichtig!

Wolken ziehen über der sapristischen See auf. Ein Wetterwechsel kündigt sich an.
Doch Flüssigkeitsmangel wird heute nicht zu einem bestimmenden Problem, sondern das Zuviel an Wasser. Nach etwa einer Stunde des Wanderns ziehen Wolken auf und wir ahnen, wie schnell sich das zum Sturm auswachsen kann, was auch umgehend eintritt. Schlagartig schüttet es aus allen Kübeln und ich überlege, ob mein jahrzehntealtes Regenjacken-Embargo noch zielführend ist.
„Am trockensten bleiben wir, wenn wir ins Wasser gehen“, überlege ich laut, „Mitten im Wasser wird man weniger nass als in so einem ungemütlichen Regenguss.“
„Ist das so?“, fragt sie meiner Geschichten müde.
„Ja. Das Wasser bildet ja im Grunde eine Schutzhülle, sodass man nicht nass werden kann. Allerdings fürchte ich, dass es auch sehr kalt würde.“
„Außerdem herrscht hier Badeverbot. Wir sind hier im Nichts. Und ich sagte dir vorher, eine Regenjacke wäre nicht das Schlechteste bei Regenwetter.“
„Als meine Mutter mich irgendwann nicht mehr zwingen konnte, eine Regenjacke zu tragen, schwor ich mir, nie wieder eine anzuziehen. Und so trage ich seit 20 Jahren keine Regenjacken mehr!“
„Deine Mutter hat dich also bis zu deinem 20. Lebensjahr gezwungen, eine Regenjacke zu tragen?!“
„Ja. Aber nur bei Regen.“
„Mit 20?!“
„Sie war da schon deutlich älter.“
Nach wenigen Sekunden sind wir durchnässt, da wir uns weit und breit nirgendwo unterstellen können. Nun habe ich sie, die raue See, die ich ja unbedingt wollte, von der auch Theresa schwärmte, die Volontärin in der Abteilung, in der ich daheim arbeite.
(Auch die hat, wenn ich die Nachrichten aus der Heimat korrekt verfolgt habe, derzeit ein Problem mit einem Zuviel an Wasser …)
„Das ist doch jetzt genau das Wetter, das du wolltest!“, sagt meine Mitbewohnerin.
„In der Praxis fühlt es sich nicht rau an, sondern einfach nur nass. Sieh dir meine Hose an! Nass! Ich hole mir den Tod, noch bevor wir am Kliff sind!“
„Darum trage ich eine Regenhose!“
„Regenhose! Ha! Ich habe noch nie eine Regenhose erlebt, in der man wirklich trocken bleibt! Ich habe es 40 Jahre ohne Regenhose geschafft, da werde ich doch jetzt nicht in diesem unwirtlichen Land noch schwach!“
„Du lässt dir nichts sagen, oder?“
„Da haben sich schon andere Leute die Zähne ausgebissen.“
Der Himmel klart wieder auf, als wir das Kliff erreichen. Zumindest glauben wir, dass es das Kliff ist.
„Hm, also im Norden ist das Wasser, weiter östlich Landmasse, wir in der Mitte. Dann muss es das Kliff sein. Man sieht ja nichts, solange man draufsteht. In Deutschland würde hier jetzt ein Schild stehen, meinetwegen ein Verbotsschild. ‚Kliff. Wandern abseits der Wege verboten‘. Aber hier?! Hier ist nichts“, schwadroniere ich.
Sie: „Vielleicht ist hier auch gar nicht das Kliff. Und warum sollten sie dann ein Schild aufstellen, auf dem ‚Kliff‘ steht?! Sollen sie überall, wo kein Kliff ist, ein Schild aufstellen mit ‚Kein Kliff‘?!“
Das überzeugt mich, was ich aber nicht zugebe. Eher überlege ich, meine besserwissende Mitbewohnerin von der Klippe zu stoßen. Kürzlich erst las ich, dass das eigentlich schon der perfekte Mord wäre. Reinhold Messner kann man ja auch nichts anhängen, wenn es um seinen Bruder geht. Gerade hebe ich hinter ihrem Rücken meinen Arm, da ruft sie:
„Da! Ein Schild!“
Wir gehen auf das Schild zu, das wir nicht lesen können. Ich krame in meinem Rucksack nach dem Wörterbuch und schlage „Klif“ nach.
„Du schlägst doch jetzt nicht ‚Klif‘ nach?“, will meine Mitbewohnerin wissen, „Das wird wohl ‚Kliff‘ bedeuten.“
„Und wenn es ‚Kalifat‘ heißt? Dann rennen wir naiv ins Kalifat und werden vom Kalifen höchstpersönlich in Empfang genommen und ich sage dir, es gibt solche und solche Kalifen!“
Also schlage ich nach … „Wir sind am Kliff!“, rufe ich aus.
Nun müssen wir lediglich die Holztreppe nach unten zum Strand finden, um von unten auf das Kliff hinaufsehen zu können. Dass es diese Treppe gibt, wissen wir aus einer Youtube-Reportage, die wir gestern Abend nach unserer Anreise noch gesehen hatten. Die Treppe wurde erst vor rund einem Jahr errichtet.
„Da, das ist die Treppe!“, triumphiert meine Mitbewohnerin.
„Nein, ausgeschlossen. Das ist hier noch nicht hoch genug. Wir können unmöglich schon ganz oben auf dem Kliff sein. Ich wandere doch keine 20 Kilometer für diesen kleinen Hügel! Da sind ja sogar unsere Täler im Münsterland höher. Wir gehen weiter. Vielleicht dauert es noch ein, zwei Kilometer.“

Das Kliff, wenn man draufsteht.
Weit gefehlt. Denn eine halbe Stunde später befinden wir uns wieder im Flachland, mitten in der Stadt.
„Seppo, da kommt keine Treppe mehr, da kommt auch kein Kliff mehr. Wir sind daran vorbeigelaufen! Wir waren auf der Top-Sehenswürdigkeit und haben es nicht bemerkt!“
„Nun, mein Kompass hat aber …“
„Dein Kompass am Arsch!“
„Nordosten. Immer gen Nordosten.“
„Wir können Zuhause jedem sagen, dass wir da waren, aber das Kliff leider übersehen haben!“
„Wenn man dieses Kliff so leicht übersehen kann, dann kann es so toll ja nicht sein!“
Inzwischen sind wir wieder zurück in unserer Berghütte. Auf meinem Handy sehen wir uns Fotos bei „Flickr“ an, die das Kliff zeigen.
„Wirklich beeindruckend. Das ist wirklich ein tolles Naturschauspiel!“, sage ich.
„Und wir waren da“, ergänzt sie.
Morgen setzen wir unseren Urlaub nach einem entspannten Abend fort. Die zweite Wanderung führt uns in die hiesige Hafenstadt, während Deutschland den eigenen Nationalfeiertag missachtet und meine Mutter Geburtstag hat. Mehr als 860 weitere Geschichten finden Sie auf www.seppolog.com!
Bisher habe ich erraten, dass Ihr an der Ostsee seid. Und zwar zwischen Misdroy und Kolberg. Kriege ich jetzt einen Preis?
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wie kommst du auf Ostsee?
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Das spür ich halt. In allen Knochen.
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