„Endlich werden wir Deckenlampen bekommen!“, sage ich zu meiner Mitbewohnerin, nachdem sie das folgenschwere Telefonat beendet hat. Wir wussten, dass uns genau dieser Anruf dereinst ereilen würde. Tausende Male (vermutlich eher zehn- bis 20-mal) hatte ich mir diese Situation ausgemalt, die unsere Rückkehr nach Münster, ja, im Grunde unser neues, selbstbestimmtes Leben manifestieren würde. Ich war mir sicher, dass es in diesem Jahr geschehen würde, zumal sie einen Weg vervollständigt, den meine Mitbewohnerin und ich seit rund drei Jahren beschreiten: den Weg des totalen Neuanfangs. Wir kamen ohne Jobs und Wohnung nach Münster, kämpften uns beide durch eine Phase der Arbeitslosigkeit, um uns beruflich nun an einem derartig luxuriösen Punkt wiederzufinden, den mindestens ich noch vor einem Jahr für unvorstellbar hielt. Hätte ich nach Abschluss meines Studiums, dem sich eine weitere Phase der absoluten Orientierungslosigkeit anschloss, einen Blick in die Goldenen 2020-er werfen können, hätte ich es nicht geglaubt – derart atypisch läuft es gerade für mich (toi, toi, toi). Es vergeht kein Tag, an dem ich dem nicht demütig begegne. Eine unfassbare Glückssträhne, die wir uns allerdings selbst erarbeitet haben.

Nur die fehlenden Deckenlampen, die passen nicht so recht in dieses Bild. Haben aber ihren Grund. Seit zwei Jahren sind wir wieder in dieser Stadt, haben es aber weder geschafft, die Fensterfronten unserer sensationellen Wohnung in Münster-Neutor mit Vorhängen oder Vergleichbarem auszustatten, noch alle Räume mit Lampen ins rechte Licht zu rücken. Denn wir wussten, dass diese Wohnung nur ein weiterer Übergang sein würde: solange, bis Herr Fischeler seinen Platz räumt.

Am Ostermontagabend klingelt das Handy meiner Mitbewohnerin. Als sie mir sagt, wessen Name auf ihrem Display erscheint, ist mir klar:

„Herr Fischeler ist tot. Möge Gott uns allen beistehen.“

Nach einer halben Stunde bestätigt mir meine Mitbewohnerin, dass ich falsch lag: „Er ist nicht tot, aber er ist mit seinen 96 Jahren nicht mehr Herr seiner Sinne und begibt sich in betreutes Wohnen. Wir werden im Sommer dort einziehen können.“

Mitnichten hatten wir nur so darauf gewartet, dass Herrn Fischeler das Leben oder seine Sinne abhanden kommen. Im Gegenteil: Wäre es nach mir gegangen, hätte er dort noch ein, zwei Jahre weiter gehaust, wie er es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges tat, im Münsteraner Südviertel, das meine Mitbewohnerin und ich sehr gut kennen, denn im selben Haus hat sie viele Jahre gelebt und irgendwie auch ich, obwohl ich – in derselben Straße – eine eigene kleine Wohnung hatte. Herr Fischeler war immer unser Nachbar. Damals ahnten wir nicht, dass sein Schicksal unseres bestimmen würde. Wir kehren also ein weiteres Mal zurück. Es wird – so Gott will – unser vorletzter Umzug sein, bevor wir in einigen Jahrzehnten in ein Haus in Münster-Hiltrup ziehen werden (sofern wir alle Beteiligten davon überzeugen können).

Die wenigsten ziehen gerne um. Zu denen gehöre ich, da wir 2018 innerhalb von zehn Wochen gleich zweimal umgezogen waren. Hintergrund war, dass wir nicht schnell genug aus dem Düsseldorfer Exil rauskommen konnten. Dieser doppelte Umzug zeigte mir aber auch, dass es machbar ist. Man stumpft ab. Das Leben aus Kartons ist gar nicht so übel, wenn am Horizont Besseres aufwartet, für das sich manch Preis durchaus lohnt. 2018, das war mein ganz persönliches „Anpacker-Jahr“, wie ich es nannte: Beseitigen, was mich unzufrieden machte, forcieren, was ich wollte. Es ist erstaunlich, wie viel man mit überschaubarem Aufwand erreichen kann. Nicht jeder von uns hört es gerne, für andere ist es selbstverständlich: Wir sind in weiten Teilen Herr unseres Schicksals. Unvergessen bleibt für mich die Autofahrt von Düsseldorf nach Münster am Tag des Umzugs. Dem Umzugs-LKW folgend hatte ich dieses Zitat von John Cleese aus Clockwise im Kopf, einen Ohrwurm, der bis heute nachhallt:

„Dies ist ein historischer Augenblick“.

Mir war klar: Ich fuhr zum x-ten Mal nach Münster, doch dieses Mal gab es keinen Grund für eine Rückfahrt nach Düsseldorf. Und tatsächlich war ich seitdem erst zweimal wieder in der Landeshauptstadt, die zehn Jahre lang nicht mein Zuhause wurde, da sie offensichtlich nicht bereit war, sich mir anzupassen.

Dieser Neuanfang in Münster war unser Projekt. Doch das ist nun auch schon wieder zwei Jahre her.

Noch vor wenigen Wochen stellte ich für mich fest, dass mir etwas fehlt. Ein neues Projekt. Dieser Blog, den Sie gerade lesen, war mal ein solches und er erlebte eine unglaubliche Hochphase. Meine körperliche Transformation (Ich war mal eine Frau … kleiner Scherz, ich war mal ein Lappen.) war ein solches. Natürlich auch der berufliche Neuanfang, der auf eine ungeahnte Weise gelungen ist, so holprig der Weg dahin auch war. Doch diese „Projekte“ sind nun abgeschlossen und wäre ich ein alter Mann, würde ich mich nun gemütlich in den Sessel legen und ein Nickerchen machen.

Nachdem ich das nun auch unzählige Male getan hatte, stellte ich fest, dass womöglich jeder Mensch in unserer Lebensspähre, in der wir nicht ums physische Überleben kämpfen müssen, eine Art Projekt benötigt. Ich habe auch durchaus eines gefunden, ein kleines jedoch, das ich an dieser Stelle verschweigen möchte. Doch ist der Umzug wohl das nächste, das uns in den kommenden Monaten begleiten wird, denn:

Die Wohnung, die müssen wir uns erst bauen. Wir haben absolute Freiheit.

Und das macht ihren Reiz aus. Wir ziehen nicht einfach irgendwie um in eine fertige Wohnung, wie wir das bisher immer taten, sondern sanieren sie komplett. Ich stehe vor Entscheidungen, die nur Männer treffen können: In welche Räume kommen die Glasfaser-Anschlüsse? Klare Antwort: in alle. Wie viele Steckdosen kommen auf welche Höhe? Zehn in jeden Raum auf barrierefreier Höhe. Denn das habe ich in meinen bisherigen acht Umzügen gelernt: Steckdosen kann man nie genug haben.

Meine Mitbewohnerin zeichnet den Grundriss der Wohnung auf. Zwar kennen wir den, da selbst in diesem Grundriss gelebt, doch werden wir bauliche Veränderungen vornehmen und die eine oder andere Tür zumauern.

„Hier ist K1, hier dann K2“, murmelt sie.

„Pardon? Was ist K?“, frage ich.

„Kinderzimmer.“

Blutsturz.

„Verzeihung, warum dann K2?!“

„Jedes Kind bekommt ein eigenes.“

„Jedes?!“ Schnell sondiere ich den Grundriss, um sicherzustellen, dass ein K3 ausgeschlossen ist, und bin erleichtert.

„Badewanne oder Dusche?“, fragt sie.

„Beides. Solange Platz für ein Klo bleibt.“

Klo. Damit fing der Ostermontag überhaupt erst an, bevor jener Anruf uns ereilte. Wir sitzen im Bett und lesen. Sie stößt auf eine Anzeige für eine dieser „japanischen“ Toiletten mit, wie soll ich sagen, Wasser-Poperzen-Spülung. Hat mich schon immer gereizt, denn es ist ja Wahnsinn, dass wir uns den Allerwertesten immer noch mit Papier reinigen, obwohl andere Kulturen schon immer wussten, dass man seinem unteren Ausgang damit nichts Gutes tut.

„Wenn wir mal ins Südviertel ziehen, könnten wir uns doch so eine High-Tech-Toilette einbauen lassen!“, schlägt sie angesichts der Anzeige vor.

„Man müsste sie nur vorher irgendwie testen können. Nicht, dass der Wasserstrahl zu hart ist, und man als User erschrocken vom Prozellan aufspringt, sich dabei den Kopf irgendwo stößt und stirbt.“

Es war nur ein Gedankenspiel. Und doch: Wenige Stunden später nur ist es eine echte Option. Und tatsächlich höre ich sie am Telefon fragen – als hätte der Toilettenmtopf oberste Priorität! -, ob wir auch eine japanische Toilette bekommen könnten. Ja, das sei kein Problem, die erstaunliche Antwort.

Angesichts der Tatsache, dass wir eine Traumwohnung aufgeben, um eine noch traumhaftere mit einem zusätzlichen Zimmer und Garten (für unseren Stangenpark!) zu bekommen, sind wir aufgewühlt. Trauer auf der einen Seite, große Freude auf der anderen. Ein Aufeinandertreffen widersprüchlicher Gefühle, dem man nur auf eine Weise begegnen kann:

„Ich brauche Captain Morgan“, und stelle klar: „Ohne Cola.“

Etwa zwei Stunden später sitzen wir in der Küche, die wir so lieben. Und es fallen Entscheidungen, die einem unter Alkoholeinfluss viel leichter fallen.

„Die Außenwand der neuen Küche wird rausgerissen“, plant meine Mitbewohnerin, die inzwischen den dritten Grundriss aufgemalt hat, der – alkoholbedingt – mindestens in den Maßstäben von der Realität abweicht, „Wir schließen der Küche einen Wintergarten an.“

„Auf Kosten der Terrasse?!“

„Nein, auf Kosten des Balkons.“

„Die Wohnung hat einen Balkon und eine Terrasse?!“

Tatsächlich war mir das neu. Ich bin derart fassungslos ob dieses Glücks, dass ich mir nachschenken muss, um es zu verkraften.

„Ab Sommer hat sie keinen Balkon mehr“, fährt meine Mitbewohnerin sanierungsfreudig fort, während ich auf meinem Handy meinen Kontostand überprüfe. Und beschließe:

„Ich will eine neue Einbauküche. Ich ziehe die derzeitige kein drittes Mal um“, exklamiere ich feierlich und vor allem bestimmt, da ich mit Widerstand rechne.

„Okay“, sagt sie zu meiner Überraschung und ich schenke ihr noch mehr Alkohol ein, um unsere Entscheidungsfreude weiter zu befeuern. Die neue Küche wird in irgendeiner Form weiß, der Steinboden dunkel.

Wir haben nun keinen straffen Zeitplan, nehmen uns aber vor, das in drei Monaten über die Bühne zu bringen. Bereits am folgenden Tag finden wir uns am Recyclinghof in Münster-Coerde wieder, da wir nun alles ausmisten, was bei einem Umzug nur hinderlich ist. Mehrere hundert DVDs, die ohnehin seit Jahren nur im Keller standen, wechseln ihren Besitzer. Große Mengen an Elektrogedöns werden entsorgt. Und am Tag, an dem ich diese Zeilen schreibe, verteilt meine Mitbewohnerin ausrangierte Hanteln an Freunde in Düsseldorf. Unseren Besitzstand im Keller halbieren wir auf diese Weise.

„Hier kommt das Sportzimmer hin“, plant sie weiter. Denn sie hasst unsere derzeitige Situation, dass hier überall Hanteln und anderes Sportgerät rumliegen.

Ein paar Gläser später beschließen wir, wo Wohn- und wo Schlafzimmer sich befinden werden. Bodenbelag: Holz.

„Aber nicht im Sportzimmer. Das wird mit Mattenboden ausgelegt“, erklärt sie und ich bewundere und liebe sie für diesen Tatendrang. Auch das war immer ein kleiner Traum von uns: die eigene Turnhalle, die bitte nicht mit Straßenschuhen betreten wird! Vielleicht stellen wir einen Hausmeister ein, der darauf ein Auge haben wird.

Ich befinde mich nun in der statistischen Lebensmitte und werde erreichen, was ich erreichen wollte. Ein Haus stand nie auf meinem Zettel, da ich weiß, dass ein Haus in der Münsteraner Innenstadt meine Finanzen überstrapazieren würde. Priorität war aber immer für mich: Münster-City. Das verbinden zu können mit einem eigenen Garten samt Calisthenics-Park ist mehr, als ich mir erhofft hatte. Ich darf Ihnen an dieser Stelle eines deutlich sagen: Das haben wir, das habe ich mir verdient. Waren meine 20-er- und 30-er-Jahre eher etwas bekackt, dreht sich jetzt der Wind. Und ich wiederhole: Das gilt es, demütig anzugehen.

Ich ahne, da kommt etwas Arbeit auf uns zu, die ich jedoch, wo es geht, an Fachpersonal weiterdelegieren werde. Und auch, wenn wir kein Haus bauen, bauen wir uns immerhin eine Wohnung im guten, alten Südviertel. Mit Garage, was ich ebenfalls noch nicht fassen kann. Das spießige Leben, das ich mir immer erträumt habe, rückt zunehmend nahe!


Der Umzug wird hier im seppolog wie gewohnt lückenlos und pathetisch begleitet. Nehmen Sie sich also nichts vor und stellen Sie Ihr eigenes Leben ein.

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