Meine Mitbewohnerin sitzt so da, im Körper ein Knick, der einen 90-Grad-Winkel (Fahrenheit allerdings) beschreibt. Und zwar dergestalt, dass die Kniescheiben nach oben zeigen, die Beine also nach vorn gestreckt und nicht etwa nach hinten mit Kniescheiben unten.

Es ist Samstagmorgen, zirka zehn Uhr, und sie sitzt wie beschrieben da mit meinem Manuskript in beiden Händen. Und zwar dergestalt, dass die Fingerknöchel nach vorn, von ihr weg, zeigen, als würden diese meiner Mitbewohnerin Kniescheiben den Weg weisen wollen. Oder um es kurz zu machen: Beide sitzen wir im Bett, sie liest mein noch nicht finalisiertes Buch und ich starre sie dabei an, hoffend, dass sie hier und da mal schmunzelt beim Lesen meines neuesten Werkes, das ich unter Pseudonym veröffentliche, da ich nicht möchte, dass gewisse Personenkreise mich mit meinen Werken verbinden können.

„Mir ist eines nicht ganz klar“, sagt sie plötzlich.

„Solange es nur ‚eines‘ und nicht alles ist“, gebe ich nervös mit Hang zur Hysterie zurück.

„Naja, also im Grunde ist mir nicht alles nicht klar, sondern gar nichts klar an diesem Text. Warum heißt deine Hauptfigur ‚Pulliver‘?!“

„Wegen ‚Gulliver‘! Und mein Gulliver trägt eben einen schicken Pulli. Nur so kam ich überhaupt auf die ganze Geschichte! So läuft es immer bei mir!“

„Das ist vielleicht das Problem.“

Pulliver kramte aufgeregt in seinem Schrank und griff wahllos ein paar Pullis heraus, um sich sogleich in den Koffer zu werfen.

„Die Stelle beispielsweise raffe ich schon nicht. Wirft er sich selbst in den Koffer oder wirft er die Pullis in den Koffer?!“, fragt sie.

„Das ist doch eindeutig formuliert. Er wirft sich ’sogleich in den Koffer'“, erkläre ich in meiner mir angeborenen engelsgleichen Geduld und raste innerlich aus. Kann sie nicht lesen?! Es steht doch da!

„Ich weiß, aber es ergibt keinen Sinn.“

Ich greife resigniert zu meinem Handy, das auf dem Nachtschränkchen liegt. Ich will Kraftold Kramer anrufen, meinen früheren Manager. Dabei stelle ich beim Blick aufs Handy fest, dass wir bald November haben.

„Ich muss unser Internet noch umziehen“, sage ich mehr zur mir als zu ihr. Wir ziehen in vier Wochen in unsere bis dahin hoffentlich fertig sanierte Wohnung und unser Internetanbieter weiß noch nichts davon. Aber das nur nebenbei, ist nicht handlungsrelevant.

Ich wähle Kraftolds Nummer, der sich über samstägliche Anrufe von mir immer sehr freut.

„Hallo Kraftold, ich bin’s, Seppo. … Folgende Situation. Ich benötige einen Lektor. Kannst du da was arrangieren? Kennst du einen?“

„Muss es ein Mann sein oder darf es auch eine Lektorin sein?“, fragt er hämisch, da er weiß, wie ich zum ‚Gendern‘ stehe.

„Wichtig wäre mir, er kann lesen und versteht vor allem etwas von Meisterwerken. Anders als meine Mitbewohnerin.“

Meine Mitbewohnerin hört das, klappt mein Manuskript zu und wirft es quer durchs Schlafzimmer. Ich muss diesen Akt nicht groß interpretieren, ich weiß sofort, was sie mir damit sagen will. Ich nehme an, sie ist begeistert.

Kraftold fährt fort. Nicht mit dem Auto oder sonst wie, sondern im Gespräch: „Ich habe da tatsächlich eine Lektorin an der Hand. Sie heißt Lara.“

Grundgütiger! Lara!, denke ich. Ich kannte dereinst eine Lara, doch die kann es nicht sein, denn jene Lara ist durch ungünstige Umstände durch meine Hand verstorben.

„Lara Lektor heißt sie, um genau zu sein“, ergänzt Kraftold.

„Das ist nicht wirklich ihr Name?!“, frage ich bass erstaunt.

„Nein, ist es nicht. Es ist mehr so ein Künstlername.“

„Künstler_innenname!“, korrigiere ich ihn ironisch, wobei ich den Glottisschlag über etwa vier Stunden ausdehne, damit deutlich wird, was ich davon halte, dass wir uns gerne den Kiefer brechen, um möglichst viele Geschlechter unterzubringen.

Es ist demnach nun früher Nachmittag und ich setze das Telefonat im Wohnzimmer fort. Im Augenwinkel sehe ich kraft unseres Fensters, wie ein Nationalsozialist der AfD in seinem Garten Bücher verbrennt, darunter auch mein Manuskript, das der Wind beim Lüften des Schlafzimmers aus dem Fenster geweht hat.

„Der Irre spielt wieder Bücherverbrennung“, erzähle ich Kraftold nebenbei, als dann auch die Polizei wie gewohnt anrückt und den irren Nazi über das Verbot offenen Feuers aufklärt.

„Ihr habt mir gar nichts zu sagen!“, ruft der irre Nazi, den ich vermissen werde, wenn wir hier nicht mehr wohnen. Vor etwa drei Wochen spielte er Fackelzug auf unserer Straße, wobei er sich versehentlich selbst entzündete. Wie auch viele andere Nachbarn lief ich auf die Straße, um nicht zu helfen. Leider half dann ein herbeieilender Arzt, der sich aber rechtfertigte: „Ich muss leider helfen!“

Nun gut, zurück zu Kraftold, der weiter erklärt: „Eigentlich heißt sie Ungern mit Nachnamen, also Lara Ungern. Sie lebt in einem Opferschutzprogramm, was ich natürlich niemandem verraten darf. Sie hat sich mir einmal anvertraut. Offenbar hat ein durchgeknallter Narzisst mehrfach versucht, sie umzubringen.“

„Wer würde so etwas tun wollen?“, frage ich betont unschuldig, da ich natürlich weiß, dass ich derjenige bin. Narzisst? Ja gut, aber durchgeknallt?!

„Kraftold, ich würde sagen, es ist besser, den Kontakt erst einmal nicht herzustellen. Vielleicht brauche ich auch keine Lektorin.“

„Seppo, nur weil sie eine Frau ist?!“

„Herrgott, mir ist das Geschlecht vollkommen egal! Ich diskriminiere Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, gerade Frauen! Und ich erinnere daran, dass ich gerade dabei bin, den Verein ‚ProFrau‘ zu gründen.“

Andere Uhrzeit. Es ist 19 Uhr und ich sitze in der Finne, einer Kneipe in der Münsteraner Altstadt. Es ist meine dritte Lesung aus dem noch nicht veröffentlichen Werk, dass heute Mittag noch ein irrer Nazi in seinem Garten verbrannt hatte. Gute Werbung, denke ich mir, als ich die verkohlten Seiten, die noch zu retten waren, auf meinem Tisch aufbreite.

„Liebe Gäste, wie Sie …“, setze ich an und werde direkt von einem weiblichen Feminist unterbrochen.

„Es gibt durchaus den Begriff ‚Gästin‚!“, ruft sie.

„Es gab auch immer den Traum vom Flugtaxi“, erwidere ich, „der hat sich auch als untauglich herausgestellt. Also, liebe Gäste, vielen Dank für Ihr Erscheinen.“

„Ich gehe!“, ruft der erboste Frau.

„Dann gehen Sie und denken Sie über die Frage nach, wie wir demnächst den Begriff ‚Führungskraft‘ gendern, da ich mich in ihm als Mann ausgeschlossen fühle! Also, liebe verbliebenen Gäste, wie Sie sehen, ist mein Manuskript etwas verkokelt. Ein irrer Nazi hat, naja, Sie wissen schon, was die so tun an einem verlängerten Wochenende. Nichtsdestotrotz möchte ich Ihnen die unbehelligt gebliebenen Zeilen nicht vorenthalten. Pullivers Reisen.“

Es wird ein erfolgreicher Abend, die Menge tobt. Mir scheint, ein Meisterwerk wird da demnächst veröffentlicht. Doch meine Freude, sie wird getrübt. Aus dem Nichts heraus, also eher aus der tosenden Menge heraus, tritt ein blonder Gast zu mir hervor, den ich nur zu gut kenne:

„Lara!“

Das droht, spannend zu werden! Wie konnte Lara von den Toten auferstehen? Und will sie sich an ihrem Mörder rächen? Erleben wir es bald – hier im seppolog!

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