Kosmopolit, Weltenbummler oder eben einfach nur Mann von Welt – so kennt und so nennt man mich, sofern es sich bei „man“ um die:derjenig_innen handelt, der_die/dieder:das(innen) mich kennen. Ich bin überall zuhause und dank meines Sprachentalents anpassungsfähig.

„Vous n’êtes pas du tout français?!“, fragte mich kürzlich bass erstaunt ein Franzose, der mich aufgrund meines flüssigen Französischs für einen Baguettefresser hielt.

„Je suis humain dans mon coeur“, gab ich warm zurück und wir herzten uns.

Chaise-conceur, das ist der Stuhlmacher im Französischen … Moment, mein Telefon klingelt.

„Flotho?“

„Hallo Seppo, Kraftold hier.“

Ah, es ist Kraftold Kramer am Telefon. Ich versuche, ihn abzuwürgen, halte es aber mindestens kurz, damit ich gleich weiter über Münsters Stuhlmacher erzählen kann. Augenblick …

„Kraftold, was gibt’s?“

„Auf die Fresse gibt’s! Du kannst nicht allen Ernstes von ‚Baguettefressern‘ schreiben!“

„Warum nicht? So als Gag?!“

„Die Zeiten, in denen man Gags machen durfte, sind vorbei. Überall lauern Menschen, die nur so darauf warten, sich reflexhaft über etwas aufzuregen! Auch du musst politisch korrekt werden!“

„Es fällt mir schwer, das ernstzunehmen.“

„Die Zeiten haben sich verändert! Sprachpolizist- [lange Sprechpause, euphemistisch genannt Glottisschlag] -innen, wohin man sieht!“

„Hast du gerade wirklich im Sprechen gegendert?! Hast du wirklich so eine alberne Sprechpause eingebaut?“, will ich empört wissen.

„Selbstverständlich!“

Ich beende das Telefonat. Wer mir mit ’nem Glottisschlag kommt, erntet einen Paukenschlag. Sich derart viel Mühe zu machen, um (vermeintlich) politisch korrekt zu sein, der kann nicht ganz bei sich sein.

Zurück also zum Chaiseconceur, zum Stuhlmacher. Dort waren meine Mitbewohnerin und ich am Wochenende und wir saßen unter den Augen von Tante Anna. Die ist zwar seit 1945 tot (meiner Vermutung nach beim Bombardement Münsters gestorben), hing aber in Öl gegossen über unserem Tisch. Also in Öl gemalt, trifft es vielleicht besser. Sie sah uns gewissermaßen beim Essen zu und mittels hochkomplexer Technologie ist es mir gelungen, ihre Perspektive auf unser Mahl zu simulieren:

Vor etwa einem Jahr – leider kurz bevor die Gastronomie und später andere Etablissements – für einige Monate schließen musste, haben meine Mitbewohnerin und ich uns anlässlich einer beruflichen Verstetigung zum damaligen Caitpuncdt, vorgenommen, jedes Restaurant in Münster zu testen, wobei wir es auf die leicht gehobene Gastronomie absahen, nicht aber auf so genannte Spitzenrestaurants, bei denen ich das Bestellte auf dem Teller vor lauter Übersichtlichkeit nicht finde. Gegen teures Dinieren habe ich nichts (mehr), aber ich will auch etwas fürs Geld bekommen. Und dazu zähle ich nicht essbare Deko wie Gestrüpp oder seltsame Saucenspritzer, die kalligraphieähnliche Linien auf den Tellern ziehen.

Geht man in Münster essen, wird man einigermaßen schnell feststellen, welche Art Küche hier gefragt ist, die westfälische nachweislicherweise und erst nach einem Jahr habe ich begriffen, warum das so ist. Natürlich zum einen, weil Münster die Hauptstadt (Nordrhein-)Westfalens ist und hier klassische Gerichte der westfälischen Küche ihren Ursprung haben. Wie beispielsweise das Töttchen:

Ursprünglich werden für Töttchen ein Kalbskopf und Innereien wie Lunge, Herz u. ä. vom Rind sowie Zwiebeln und Essig zu einem süß-sauren Ragout verkocht.

https://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%B6ttchen

Klingt ein bisschen … naja … gewöhnungsbedürftig, doch das ist es nicht. Die „Chicken McNuggets“ von McDonald’s sind im Grunde nichts anderes, nur eben paniert. Meine Mitbewohnerin probierte Töttchen gefolgt von Zuneigung zum Töttchen im hiesigen „Drübbelken“, einem Restaurant, das ich für eines der besten halte, in dem ich jemals zu speisen die Ehre hatte. Das Ambiente dort würde ich gerne beschreiben, aber Worte und Wörter vermögen das nicht zu leisten: uriger und westfälischer geht es gar nicht. Wenn es draußen kalt ist, vielleicht sogar Winter, gibt es nichts malerischeres, romantischeres und stimmungsvolleres als dort am großen Kaminfeuer zu tafeln – man ist in einer anderen Welt. Und wer Töttchen nicht mag, bekommt dort auch die anderen, ganz klassischen Gerichte Westfalens.

Zum anderen ist die westfälische Küche hier aus einem anderen Grund gefragt: Ihr gelingt, was ich in beispielsweise Düsseldorf vermisst habe. Düsseldorf und Münster haben – und das nun aus meinem Munde! – eine Gemeinsamkeit. Beider Völker halten sich für besonders einzigartig und sind maßlos stolz auf ihre Stadt. Dass das nur im Falle Münsters auch objektiv berechtigt ist, erkennen die Düsseldorfer allerdings nicht, was hier aber nicht Thema sein soll. Sollen sie doch irren, die Irren.

Düsseldorf ist eine Stadt mit jeder Facette Mensch. Doch im Laufe der Zeit gelang es einer Klasse, das Bild des Schreibtisches des Ruhrgebiets zu prägen: der Oberklasse. Ich habe da nicht grundsätzlich etwas gegen. Denn in Münster verhält es sich ähnlich. Wer hier sonntags über den Prinzipalmarkt …

Gegen den Namen „Prinzipalmarkt“ stinkt sogar „Königsallee“ ziemlich ab …

… flaniert, wird genau solche Menschen phänotypischer Erscheinung sehen, die man auch in Düsseldorf trifft (mit dem Unterschied, dass sie in Münster nicht schon morgens in der Flinger oder Rheinstraße Alt-Plörre pienen (hier trinkt man richtig, nämlich Pinkus). Auch Münster ist eine Bonzenstadt, hier laufen nicht weniger Daunenwesten herum als in eben Düsseldorf oder auch auf Sylt. Und auch hier wird der dunkle Bolide sonntags auf dem Prinzipalmarkt gezeigt, wobei das nicht ganz so penetrant geschieht wie auf der Düsseldorfer Kö und außerdem die Frage aufwirft, was überhaupt ein Automobil auf dem für den Verkehr gesperrten Prinzipalmarkt zu suchen hat?! Abgesehen davon lässt sich der Münsteraner nun wirklich nicht von Autos beeindrucken, eher von den begehrten Hollandrädern oder neuerdings Lastenrädern.

Doch einen Unterschied zu Düsseldorf, den gibt es, und den erkannte ich gestern im Restaurant Stuhlmacher: Der Münsteraner ist auf eine bodenständige Weise Bonze, der Düsseldorfer Bonze hingegen widert an und trägt die Nase dabei höher. Der Münsteraner Bonze ist sympathisch und provinziell, weil Münster provinziell ist und dies auch ausdrücklich sein will, während Düsseldorf immer wieder sich mit internationalen Finanz- oder wahlweise Mode-Metropolen gleichzusetzen versucht, was schlichtweg realitätsvergessener Größenwahn ist.

Die westfälische Küche gibt es hier meist in gehobener Form: teuer und hochwertig in unvergleichlichem Ambiente, das aber nicht auf „clean“ und menschenfeindlich-abweisend macht, sondern gemütlich und einladend ist. Dass Münster ist, wie es ist, ist – und das ist meine steile, kulinarische These – der westfälischen Küche geschuldet. Einfache, simple Gerichte hochwertig serviert ohne zu vergessen, woher man kommt. Hier braucht es keine Molekularküche, um sich abzuheben, hier hebt man sich dadurch ab, dass man sich erst gar nicht abzuheben versucht. Es ist diese lautlose Nüchternheit, die ich so schätze. Dem Münsteraner ist im Grunde egal, was andere über ihn denken – Hauptsache, er kann in Ruhe sein Ding machen. Deswegen zog es mich hierhin zurück und deswegen kann ich nicht mehr weg. Mein Schicksal habe ich sehenden Auges an diese Stadt geknüpft. Ihr Verlust wäre für mich ein Grund zum Suizid.

Das „Stuhlmacher“ ist neben dem „Alten Gasthaus Leve“, dem „Töddenhoek“ und den drei Gaststätten aus dem „Kiepenkerl“-Clan das Nonplusultra dieser Welt, die ich immer mehr zu lieben lerne. Hier wird man noch gesiezt, hier ist man auf so eine angenehme Weise einfach höflich und zuvorkommend, ohne dass es aufgesetzt wirkt – denn es ist tatsächlich echt. Es ist ein erfrischender Kontrast zu dem allgegenwärtigen Ansinnen, dass alles möglichst cool und hip sein soll. Für diese Zielgruppe haben wir in Münster das „Gustav Grün“-Konglomerat, wo alle betont nachhaltig und vor allem fleischlos essen dürfen, wo auch die Frauen einen Bart tragen und einen Bollerwagen hinter sich herziehen.

Ich hingegen, der sich schon immer für spießig hielt, habe erst jetzt die wirkliche Spießigkeit und vor allem ihre Vorzüge für mich entdeckt und ich beleidige meine Mitbewohnerin keineswegs damit, dass ich bei ihr ganz ähnliche Anwandlungen erkenne, die ich vor einigen Jahren noch nicht für möglich hielt. Sie war immer mein Gegenpol, doch auch sie kann sich dem nicht entziehen, was wir beide in den zurückliegenden Jahren auf mehreren Ebenen gemeinsam erreicht haben. Und so sagte sie gestern bei Stuhlmacher einen entscheidenden Satz:

„Es wurde uns ja nicht geschenkt, wir haben uns das ja erarbeitet.“

Und sie hat Recht. Solange es uns vergönnt ist, werden wir diese Früchte ernten. Und gerne auch wieder unter den Augen von Tante Anna, die wie alle Betreiber-Ahnen des Stuhlmachers in Öl gemalt an der Wand hängen. Seit gestern allerdings hat Tante Anna etwas Spinat in ihrem Gesicht, da meiner Mitbewohnerin beim Schneiden ihres westfälischen Kräuterpfannkuchens das Besteck auf dem Teller ausrutschte, in den Pfannkuchen stieß, dessen Spinat-Füllung schwungvoll gen Tante Anna flog.

Wir werden wiederkommen.

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