„Ist das Zahncrème? Da, an seinem Bart?“

„Zahncrème? Zunächst einmal heißt das Zahnpasta. Und nein -„

„Pasta?!“, fragt Merugin gespielt erzürnt, „Pasta im Sinne von Teigwaren, wie unsere italienischen Freunde sie nennen?!“

„Nein, Pasta im Sinne von Zahnpaste, einem pastösen Pflegemittel zum Auftragen auf die Zähne“, erwidert Femilia, die Feministin, die hier ihren ersten Auftritt hat. Aber noch weiß ich gar nicht, dass sie Femilia heißt.

„Warum sollte er sich das pastöse Zahnpflegemittel auf den Bart auftragen?!“

„Das könnten wir ihn fragen, wäre er wach. Aber ich nehme an, es ist weder Crème noch Pasta, sondern … er selbst. Das Weiß ist er selbst. Alt und weiß. Der Leichnam vor uns ist alt geworden“, stellt Femilia fest, „Und ganz nebenbei sind es nicht nur unsere italienischen Freunde, sondern auch Freundinnen.“

Während ich tot und offensichtlich ergraut so daliege, wünsche ich mir, wirklich tot zu sein. Tatsächlich jedoch hatte ich mir nur ein kleines Nickerchen gegönnt, wie man das in meinem Alter sich ja wohl verdient hat. Ich bin knapp 44 und offensichtlich damit in einem Alter, in dem man schlafend ziemlich tot aussieht. Man sieht’s ja selbst so selten. Und das wird seinen Grund haben, einen evolutionären vermutlich.

„Großer Gott, nicht mal in Ruhe ein Nickerchen an einem Freitagnachmittag kann man machen, ohne von einem Irren – hallo Merugin – und einer … Ja, wer bist du überhaupt?! … gestört zu werden!“

„Er lebt!“, kreischt Femilia und schreckt von meinem Totenbett zurück – ehrlich erschrocken zurück, was wiederum mich erschrickt. Die seltsame Frau hat mich wirklich für einen Toten gehalten.

„Sag mal, Seppo, heißt es Zahncrème oder Zahnpasta?!“, eruiert Merugin.

Ich ignoriere seine Eruierungsunternehmungen und richte mich schlaftrunken auf. Blicke zunächst auf die Wanduhr an meinem Handgelenk, dann auf den Loriot-Abrisskalender, der den 12. Mai 2023 zeigt. Und eine Zeichnung eines loriottypischen Ehepaares, das sich gestapelt hat: Die Ehegattin (Sofort verfällt man in den Loriot-Duktus …) sitzt auf den Schultern des Ehegatten, der – wie das zu seiner Zeit so war – ohnehin viel zu schultern hatte, wo doch Frauen lediglich im Haushalt beschäftigt waren, und damit unter-, folgte man dem Geiste jener Zeit. Bevor an dieser Stelle Femilia rebelliert, weiter in der Bildbeschreibung: Dem Stapelpaar, dem stapelbaren Stapelpaar gewissermaßen, steht eine weitere Dame im Kittel gegenüber. Darunter der Spruch:

Eine ernste Angelegenheit ist die Anwesenheit anderer Frauen.

Femilia bemerkt mein Verharren auf dem Kalenderblatt: „Das ist in jeder Hinsicht frauenfeindlich!“, ruft sie. Und ich würde fast sagen, keift sie, aber das wäre auch frauenfeindlich. Wäre es schon dieses Gaslightning, vom dem ich geträumt habe?

„Seltsame Frau an meinem Sterbebett, bevor wir da in den Diskurs gehen und in die Analyse, um danach nachzuschärfen, habe ich einige Fragen“, unterbreche ich in vorauseilender Vernunft, wie sie nur einem rational denkenden Manne inne ist. Frauen sind ja meist sehr emotional. (Das übrigens ist wirklich Gaslightning. Werde ich gelernt haben – von Femilia. Aber das geschieht erst in der Zukunft … Wir haben noch vieles vor.)

„Dein Bart ist grau geworden“, murmelt Merugin.

„Man hole mir einen Spiegel. Frau neben mir, Spiegel!“, werde ich zunehmend hysterisch, da ich merke, den beiden ist meine Lage vollkommen nicht bewusst. Die Frau erwidert müde: „Diese Caiten sind vorbei. Wenn du einen Spiegel brauchst, hole ihn dir selbst.“

Während nun der treue Merugin einen Spiegel sucht, betrachte ich die Frau, die so dominant in meinem … Moment, was ist das hier? … Wohnzimmer … Es ist mein Wohnzimmer, wo sie also sitzt. Sitzt so da und … spricht. Unaufgefordert! Ungefragt! Eine Agenda scheint sie zu haben. Und mir will sie diese vortragen. Warum? Ich lag nur so da. Friedlich. Tot.

„Du scheinst verwirrt, Seppo“, sagt Femilia ruhig.

„Dieser humoristische Abrisskalender da, stimmt der?! Geht der richtig?! Es ist wirklich 2023?!“

„Dieser frauenverachtende Kalender dort geht korrekt. Im Prinzip geht er korrekt, wir haben natürlich 2023. Dass aber Männer Frauen schultern, ist alles andere als zeitgemäß“, erklärt sie mir mit bebendem Körper und zitternden Lippen. Fast denke ich, sie steht unmittelbar vor einem Höhepunkt, doch das zu erkunden, erscheint mir zu riskant und unangebracht. Zumal Merugin mit einem Spiegel wiederkommt. Ich lange nach diesem und starre erstarrt hinein.

Ich sehe meinen ergrauten Bart. Verstehe nun auch diese Frage nach der Zahnpasta, die mich aus dem Schlaf gerissen hatte. Zahnpasta … ja, könnte man meinen. Aber es ist ein bestechend echtes Weiß, so echt, so natürlich, wie vieles Blondes unecht ist. Ich bin ein alter, weißer Mann. Und merke, den Stolz darauf sollte ich verbergen. Wegen der Doppeldeutigkeit der Beschreibung.

„Du warst lange weg, mein Freund“, sagt Merugin und nimmt meine Hand.

„Hände weg von meiner Hand! Geht’s noch?!“

„Typisch Alpha-Mann. Lass doch Gefühle zu, Seppo!“, coacht Femilia mich plötzlich aus dem Nichts.

„UND WER IST DIESE UNPERSON HIER IN MEINEM WOHNZIMMER?!?!“, schreie ich Merugin an, „Kann mir mal jemand erklären, was hier los ist?!“

Merugin versucht, eine eine verständnisvolle Mine aufzusetzen. Ich muss schmunzeln und weise höflich darauf hin, dass er wohl eine Miene meint und eben nicht eine Mine, auch wenn mir die Scharade gefällt, sich eine Mine aufzusetzen, um das Aufsetzen einer Miene beschreiben.

Femilia weiß meinen höflichen Einwurf direkt einzuordnen: „Mansplaining. Jetzt will er dir die Welt von oben herab erklären, Merugin!“

„Moooment, was zur Hölle ist jetzt ‚Mainsplaining‘?!“, will ich wissen.

„Und geht das nicht nur Frauen gegenüber?“, mansplaint nun Merugin Femilia ins Gesicht.

Mir wächst alles über den Kopf und schlage vor, im weiteren Verlauf auf solche Ausschweifungen zu verzichten, damit wir endlich einmal, auch dem Leser zuliebe, zum Punkt kommen.

„Aber das ist doch dein Stil, Seppo! Das ewige Ausschweifen, das Lavieren, das nicht-zum-Punkt-Kommen, das Schwafeln, das sich-selbst-so-gerne-reden-Hören …“, sagt Merugin.

„Sein Stil hat abgewirtschaftet! Und mit ihm die ganze Männerwelt!“, ruft Femilia.

„Ja, das mag alles sein. Aber könnten wir kurz mich und meine Situation einordnen?!“, bitte ich.

Femilia: „Mich und meine Situation, sagt er! Es dreht sich alles nur um ihn in seiner Welt!“

Ich: „Grundgütiger, ist das alles anstrengend. Wo ist Lara, wenn man sie braucht?! Wir kommen keinen Schritt voran! Große Reden, große Anklagen, aber wir bewegen uns nicht voran …“

Femilia: „Es ist dem alten, weißen Mann zu anstrengend! Weil er nicht mehr Krone der Schöpfung sein darf!“

Ich verliere die Fassung, greife zum Sofakissen und drücke es der seltsamen Frau in meinem Wohnzimmer ins Gesicht. Und nutze die wenigen Sekunden Ruhe, während Femilia empört – was ich ja nur vermuten kann, da es sich um ein dickes Federkissen handelt – um Luft ringt.

„Merugin, wir haben nur wenige Sekunden. Bringe mich auf den neuesten Stand!“

Und Merugin erzählt. Ja, wir hätten 2023 und es sei kein Platz mehr für meine Geschichten. Alles grenzwertig, alles drüber und alles irgendwie jede und alles verletztend. Ich müsse mehr aufpassen. Er schlug Denken als Maßnahme vor.

„Himmelherrgott, wann soll ich denn jetzt auch noch denken?! Wo ist die Zeit geblieben? Ich war ja Jahre weg! Was ist in dieser Zeit passiert?!“, weine ich in tiefer Bitterkeit.

„Femilia ist passiert. Die Frau in deinem Wohnzimmer.“

„Wie kommt sie hier rein?!“

„Sie ist meine Freundin. Wir sitzen ziemlich oft bei dir im Wohnzimmer! Wenn du schläfst. Wir hielten dich allerdings für tot. Irgendwie. Und du schnarchst, wenn du tot bist.“

„Ja, weil ich eben nicht tot war! Ihr müsst verschwinden. Ich muss das erst einmal verdauen! Menschen in meinem Wohnzimmer. Ich fühle mich vergewaltigt!“

„Genau das, Seppo, genau das kannst du nicht mehr schreiben. Weil du da etwas verharmlost. Habe ich von Femilia gelernt. Du schreibst besser auch weiterhin nicht mehr. Zu viel Gegenwind. Inzwischen gibt es etwas, das sie ‚Internet‘ nennen.“

„Spinner, so lange war ich nun auch nicht weg! Aber was ist beispielsweise mit den AfD-Nazis? Sind die noch da?“

„Ja, die sind noch da. Aber die spielen keine so große Rolle. Wir haben jetzt aber Klimakleber. Die kleben sich auf Straßen fest und warten, bis sie jemand vom Asphalt löst. Und dann kleben sie sich woanders fest. Zwischendurch sind sie auf Bali. Weil Kleben anstrengend ist.“

„Kleben sich auf Straßen fest klingt nach einem schlechten Straßenfest. Könnte aber schlimmer sein, oder?“

„Ist es durchaus. Die Klimakleber sind das eine. Wir haben inzwischen ’ne Menge Schwurbeler. Und Krieg in Europa. Der Russe zeigt wieder verstärkt Präsenz. Auch im Ausland.“

Der Druck auf dem Daunenkissen lässt nach, Die Frau, die also Femilia heißt, sackt zusammen. Schnell lüfte ich das Kissen und fächere ihr Luft zu. Als würde das helfen. Und es hilft. Sie reißt die Augen auf:

„Schwurbler …“, keucht sie und schweigt.

„Was hat sie?“, frage ich Merugin.

„Warte kurz. Sie gendert nur“, erklärt er mir.

„… innen“, vollendet sie.

„Das war der Glottisschlag. Sie macht ihn immer sehr lang. Man weiß nie, ob sie einen Satz beendet hat oder noch mitten im Gendern feststeckt.

„Was ist Dschendern?!“, frage ich offen wie nie.

„Nun, das ist im weitesten Sinne … Also wie soll ich sagen … Wir setzen auf die ohnehin nicht leichte Grammatik des Deutschen noch ein paar Hürden und Umwege oben drauf. Entweder durch eine Sprechpause, in der man sich etwas zu trinken holen kann, oder durch Verdoppelung von Substantiven, Subjekten und Pronomen in sämtlichen Sätzen. Wegen der Gleichberechtigung. Da kommst du aber schnell rein, es gibt eine elitäre Gruppe, die sich mit Deutungshoheit ausgestattet hat und uns da freundlich an die Hand nimmt. Und wenn wir mal zu gendern vergessen, gibt sie uns zarte, aber nicht zu überhörende Hinweise. Kurz: Ich find’s toll!“

„Auch Possessivpronomen?“, frage ich bass erstaunt.

„Ja, und Personalpronomen!“

Femilia: „Und die Aktion mit dem Sofakissen gerade, das geht heute auch nicht mehr, das ist politisch nicht korrekt. Vielleicht zu deiner Zeit, Seppo. Die Achtziger müssen schlimm gewesen sein.“

Es klingelt an der Wohnungstür. Gleichzeitig bekomme ich eine Whatsapp-Nachricht.

hab schlüssel vergessen!!

Meine Verlobte. Manches bleibt.

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