Samstagmorgen, zehn Uhr. Derzeit fesselt mich ein Buch, das ich zu den besten zähle, das ich in den vergangenen Monaten gelesen habe. Nach Stuckrad-Barres „Noch wach?“ (Das ich hätte literarisch hätte besser schreiben können, inhaltlich aber extrem erhellend ist, und wenn auch aus Gründen der Juristerei und Ironie als fikitv bezeichnet, ausgesprochen erleuchtend in Sachen Springer-Komplex ist, zumal wenn man sich Sekundärliteratur mit Wahrheitsanspruch danebenlegt: Ich habe viel gelernt über etwas, das man schon geglaubt, verstanden zu haben, über Machtmissbrauch insbesondere Frauen gegenüber.) lese ich nun Kai Diekmanns „Ich war BILD“. Vollkommen klar: Es fällt schwer, diesen Mann zu mögen, und ich habe ihn zu seiner Amtszeit leidenschaftlich verachtet. Aber dieses Buch ist so unfassbar unterhaltsam und vor allem dieses: lehrreich. Es geht um die Wulff-Affäre, um Wallraff und um Kohls Verhältnis zur und mit der BILD, die es auch heute zu verachten gilt. Und um vieles mehr. Kommen ja noch rund 500 Seiten.

Vor meinem geistigen Auge sehe ich in diesen Wochen immer wieder die Bibliothek meines Vaters. Da sind Biographien Poltiker seiner Zeit – Brandt, Schmidt und wieder Kohl – und auch ich beginne solche Dinge zu lesen. Und mir ist klar, woran das liegt: Am Alter. Und mit Alter meine ich gar nicht Altsein, sondern mein gegenwärtiges Alter. Mit 43 (lange Zeit glaubte ich zuletzt, ich sei 44, bis ich nachrechnete) ist man freilich nicht alt, aber man kann bereits auf einiges zurückblicken, was die nicht mal dreißigjährige Femilia nicht kann. Und so fange ich plötzlich an, mich für Dinge retrospektiv zu interessieren, die ich zwar erlebt habe, die aber eben auch schon abgeschlossen sind. Die Wulff-Affäre beispielsweise habe ich damals aus beruflichen Gründen intensiv mitverfolgen müssen, aber erst jetzt, mehr als zehn Jahre danach, bietet sich ein nüchterner Blick auf jene Ereignisse, der neue Sichtweisen ermöglicht. Leider habe ich inzwischen vergessen – das Alter! -, was eigentlich meine damalige Sichtweise war. Aber mit Sicherheit war sie nicht so differenziert, wie sie nur dann sein kann, wenn man solches Ereignis in der Rückblende betrachtet.

Ich bin erst auf Seite 130, da denke ich an Kaffee. Seit vier Stunden an diesem Morgen trinke ich latent frisch gemahlenen Filterkaffee, bis er erschöpft ist.

„Koche ich neuen?“, frage ich eher mich als meine neben mir sitzende Verlobte. Auch sie liest. Zunächst einen Artikel aus der ZEIT, dann „Es war immer so schön mit dir“ von Heinz Strunk. Innerhalb kürzester Zeit haben wir zuletzt praktisch den gesamten Strunk-Kanon gelesen … Hat man zusammen erst einmal die Peinlichkeiten und Fremdschäm-Momente eines Heinz Strunks durchstanden, ist man reif für die Ehelichung …

Meinen Kaffee trinke ich schwarz. Das ist praktisch, es geht schneller, und wer Milchkaffee trinkt, kann auch gleich Kakao trinken. Nur wenn ich mit Femilia unterwegs bin, was derzeit sehr häufig der Fall ist, trinke ich ihn mit Milch. Aus Protest.

An jenem Tag flanieren Femilia und ich über den Münsteraner Hansaring. An dem entsteht derzeit der „Hafenmarkt“, ein politisches schwer umstrittenes Projekt, das rund fünf Jahre lang eine Bauruine war. Ursprünglich hätte es das „Hafencenter“ werden sollen, deutlich größer mit einem riesen Edeka-Center. Genau mein Ding. Aber es wurde geklagt … die Gründe sind mir nicht mehr präsent. Im Zweifel ging’s auch um Fahrradständer. Vorsicht, das ist Halbwissen und vermutlich ging es um ganz andere Dinge (ja, es ging um die Verkehrsbelastung), aber ich bin müde, mich mit klagenden Deutschen auseinanderzusetzen. Baut doch einfach. Nun wird auch wieder gebaut und auch wieder geklagt. Allerdings ist der Bau nun so weit vorangeschritten, dass er vollendet sein wird, bevor die Klagen abgearbeitet sind. Nun wird’s eben ein Hafenmarkt mit völlig neuem Einkaufskonzept, das es so noch nicht gibt. Und wegen Fahrradständern wird ohnehin gerne in Münster geklagt. Zwar habe ich konsequent seit meiner Rückkehr nach Münster vor nunmehr vier Jahren kein Fahrrad, aber ich bin für Fahrradständer. Damit das hier mal in aller Deutlichcait klar wird. In Düsseldorf bauen sie bereits „Fahrradtürme“. Das sind nicht etwa Türme aus Fahrrädern – die haben wir hier zu genüge -, das sind Fahrradparkhäuser, die wir hier ebenfalls haben. Nur eben nicht als Turm.

Femilia holt sich gerne einen Kaffee in der „Kaffeegiesserei“, die scheinbar was gegen den schönen Buchstaben „ẞ“ hat. Also komme ich immer mit und finde mich in einem farblich beige gehaltenen Ladenlokal wieder, wo junge Menschen sitzen und andächtig nachdenken über die Probleme der Gesellschaft. Nicht etwa darüber, dass uns globale Konflikte ins Haus stehen (Re-Trump, China, Ende der atomaren Abschreckung und sowieso Russland), sondern über die wirklichen Probleme.

Das Bestellen von Kaffee ist, das ist nun eine Binsenweisheit, in solchen Etablissements nicht einfach. Das wurde schon sooft persifliert, dass ich es mir hier schenke. Neu ist aber, dass nicht nur die zu bestellende Zubereitungsart kompliziert ist, neu ist nun auch das Politikum um das Gefäß, in dem der Kaffee nach Handelsabschluss ausgehändigt wird.

Und die Milch.

Femilia trinkt ihn mit Milch. Milch allerdings muss Milch hier in Anführungszeichen gesetzt werden, denn sie trinkt ihren Kaffee mit „Milch“. Hafermilch.

„Wer zur Hölle kommt auf die Idee, Hafer zu melken?!“, murmele ich für alle hörbar vor mich hin. Ich möchte, dass man es hört. Ich möchte, dass ich als das identifiziert werde, als das mich Femilia so gerne betitelt: als alten, weißen Mann, der allein qua Geburtsjahr (1979) schuldig ist.

Damit wir uns nicht missverstehen: Klar gibt es Kuhmilchunverträglichkeit. Um die geht es hier nicht.

„Ich hätte gerne einen Milchkaffee“, sagt Femilia zur Kaffeehausfrau, die in meinen Augen in Lumpen gekleidet ist. Aber das trägt man heute so, ich nehme das hin. Ich bin weit davon entfernt, anderen diese Dinge vorzuschreiben. Ich lasse meinen Blick von den Lumpen, die man Mode nennt, ab und begeistere mich für die Selbstverständlichkeit, mit der die Handlangerin den Kaffee mit Hafermilch zubereitet.

„Verzeihung, sie wollte doch Milchkaffee!“, sage ich, weil ich natürlich weiß: Damit kann ich Femilia ärgern. Heute heißt das aber nicht mehr „ärgern“, es heißt „triggern“.

Femilia bin ich erwartungsgemäß peinlich; sie nickt der Kaffeehausdame konspirativ zu und signalisiert: Ignoriere diesen Boomer. Denn auch das bin ich inzwischen, ich bin Boomer. Ich kann damit sehr gut leben und schenke mir den Hinweis, dass meine Generation eigentlich nicht die Boomer-Generation ist, aber bei so tollen Schlagworten, die gerne als Totschlag-Argument genutzt werden, muss man es ja nicht so genaunehmen.

„Und was darf’s für dich sein?“, fragt professionell die Kaffeehaushandlangerin. Natürlich duzt sie mich, denn wir kennen uns nicht.

Ich habe absolut nichts gegen die Duz-Kultur. Ich mache nur nicht mit. Es liegt mir einfach nicht, das ist alles.

„Machen Sie mir bitte einen Cappuccino, möglichst groß.“

„Tall?“

„Nein, groß. Und mit echter Milch, bitte.“

Stille. Dann ein leises Raunen, das das Kaffeehaus durchflutet. Femilia dreht sich um, distanziert sich deutlich, möchte nicht mit mir in Verbindung gebracht werden.

„Mit Kuhmilch?!“, hakt die Handlangerin nach.

„Ja, würde ich Haferbrei wollen, würde ich ja wohl explizit Haferbrei bestellen.“

Widerwillig geht die Dame in ein Hinterzimmer und kehrt mit einem Päckchen echter Milch zurück.

„Hoffentlich aus der Region!“, sage ich und Femilia verlässt den Laden.

Ich gefalle mir zunehmend in der Rolle des Renitenten, der ignoriert, dass die Dinge sich ändern. Aus einem simplen Grund: Es ist ja nicht so, als käme ich aus einem vergangenen Jahrhundert (gut, strenggenommen ist es ganu so), als wäre ich ein Greis, der wirklich nicht mehr weiß, dass der Zweite Weltkrieg beendet ist und in seinem ganz eigenen Kosmos verloren ist. Mir missfällt nur außerordentlich, dass ganz grundsätzlich alle Dinge, alle Verhaltensweisen und alle Denk-Einstellungen, die älter als fünf Jahre sind, nicht nur in Frage gestellt, sondern verneint werden. Aus Prinzip. Der Hafermilchkonsum, für den es selbstverständlich gute Gründe gibt, ist nur ein Symptom dieser Pandemie.

„Recup?“, fragt die Frau hinterm Tresen.

„Pardon?“

„Wo soll ich den Kaffee hineinfüllen?“

Natürlich. Ich alter, weißer Narr. Als ob ich jetzt die ganze Zeit mit einem Pfandbecher von „Recup“ durch die Gegend renne.

„Auf die Hand.“

„Wir haben auch Pappbecher“, sagt sie, „Für die Zurückgebliebenen.“

Nun ist sie sauer und beleidigt Zurückgebliebene. Auch so ein Ding. Diese Generation ist sehr leicht zu triggern. Denn Ironie geht nur dann, wenn sie politisch korrekt ist und niemanden verletzt. „Zu meiner Zeit“ war das aber Kern von Ironie.

„Dann nehme ich gerne einen Pappbecher … Mit so einem Plastikdeckel. Schwappt sonst über beim Gehen.“

„Plastikdeckel haben wir natürlich nicht.“

Ich nehme meinen unbedeckten Cappuccino entgegen, entlohne die Dame, ziehe Trinkgeld ab (Es muss ja wohl auch möglich sein, negatives Trinkgeld zu geben.) und schließe mich draußen wieder Femilia an, die ich im Übrigen sehr mag. Denn sie hat Humor und legt mitunter eine Selbstironie an den Tag, die nur von der von Sabrina USA übertroffen wird. Es ist auch durchaus so, dass Femilia und ich offen miteinander reden, also auch über Dinge, die man nicht mit jedem teilt. Und mir gefällt das: Sie akzeptiert, dass ich ein zurückgebliebener Mann bin, als sei ich Kind der Fünfzigerjahre. Ihr zuliebe gebe ich mich viel konservativer, als ich jemals war. Einfach, weil es sie zur Weißglut bringt.

Ich lerne viel von ihr. Sie hat mir Mansplaining erklärt und vor Kurzem mich mit dem Konzept des Gaslightnings vertraut gemacht. Habe ich dann gegoogelt und eine Seite gefunden, die 33 Beispiele für Gaslightning-Sätze auflistet. Daraus bediene ich mich gerne, um ganze Whatsapp-Konversationen mit ihr zu pimpen.

Du hörst Dich verrückt an, das weißt Du schon, oder?
Ihr Frauen seid immer so emotional!

Damit kann ich schnell jede Konversation mit ihr beenden. Aber ich erwische mich bei aller diebischen Freunde durchaus oft dabei, in Erwägung zu ziehen, ihr dann doch noch zu schreiben, dass ich das natürlich nicht ernstmeine. Aber ich mag das Spiel mit dem Feuer.

Und es stimmt ja alles. Tatsächlich habe ich mich vor einigen Monaten einmal dabei erwischt, wie ich ins Mansplaining verfiel – meiner eigenen Chefin gegenüber! Mir war es derart unangenehm (Ich hatte ja nur in guter Absicht gehandelt!), dass ich überlegte, mich zu entschuldigen. Ich unterließ das, weil ich das nicht alles unnötig aufbauschen wollte. Nebenbei: Beruflich bin ich sehr oft Opfer von Mansplaining. Zu oft wird mir übersehen, dass viele Dinge, die ein erniedrigendes Verhalten gegenüber Frauen darstellen, sich ebenso gegenüber Männern abspielen.

„Du relativierst wieder alles!“, würde Femilia jetzt sagen. Tja, hat sie Recht? Oder habe ich nicht auch Recht?

Femilia hat mit ihrer Aufklärungskampagne bei mir inzwischen großen Einfluss. Tatsächlich überlege ich mir dreimal, was ich sage, um es dann nicht zu sagen, denn damit fahre ich auch ganz gut. Ich weiß, ich bewege mich gerade nahe am „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!“, aber noch näher bin ich dem vorauseilendem Gehorsam, meine Klappe zu halten. Ich bin kein Opfer, vollkommen klar, aber ich bin Hinnehmer.

Da ich gleich los muss, komme ich zum Ende. Ich überspitze natürlich – auch meine Rolle. Weil’s so lustig ist. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite nehme ich Femilia eines sehr übel: Sie diskutiert nicht. Ihre Ansichten sind die endgültig wahrhaftigen. Tatsächlich sagte sie einmal, Männer dürften sich an diesen Gleichberechtigungsdebatten (die ich für absolut angebracht und sinnvoll erachte!) nicht beteiligen. Und so dürfe ich mich per se nicht gegen das Gendern aussprechen.

Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen (Übrigens, im Plural ist alles weiblich. Stört auch keinen, denn das Argument passt den Femilias nicht ins Konzept.). Ich darf nicht dabei mitreden, wenn gerade Sprache von oben herab (und eben nicht aus sich heraus!) verändert wird. Ich erinnere an das Neusprech aus 1984 (Fiktion, schon klar), aber auch an das Nazi- sowie das DDR-Sprech. Von oben herab. Es hat noch nie geklappt.

Beruflich schreibe ich sehr viel und gendere dabei, ohne mit der Wimper zu zucken. Wer nicht schreibt, hat leicht reden, sieht die ganz praktischen Probleme des Genderns nicht. Wer aber schreibt, auch ernste und fachliche Texte, der wird spätestens im dritten Satz bemerken: Es funktioniert nicht. Auch Sonderzeichen (Unterstrich, Doppelpunkt oder Sternchen) funktionieren nicht mit jedem Substantiv. Das wird aber ignoriert, weil auch gar nicht verstanden. Ohne eine gesellschaftliche Debatte geführt zu haben, wird drauflos verunstaltet. Und ich weiß, dass meine Argumente ins Leere gehen, weil sie per se die eines alten, weißen Mannes sind, der aber gerade erst einmal bei der Hälfte seines Lebens angekommen ist. Bin ich privilegiert? Ja klar, als Münsteraner sowieso. Ich bin genau so priviligiert wie jemand, der die Wahl zwischen Hafermilch und echter Milch hat.

Naja, nun ist die ganze Gender-Diskussion ja schon abgedroschen, die Argumente ausgetauscht und Fronten verhärtet. Ich bin selbst sehr gespannt, was sich durchsetzt. Die Geschichte lehrt: Gendern wird sich in Text und Gesprochenem nicht durchsetzen. Aber ich bin mir da leider nicht so sicher. Meine Ablehung geht aber so weit, dass ich mir beispielsweise Podcasts, in denen der Glottisschlag rauf und runter schlägt, nicht mehr anhören kann. Ich finde es einfach albern. Aber für mich ein wichtiger Punkt: Jeder darf, niemand sollte müssen. Verzeihung, jede_r darf, niemand sollte müssen. Bisschen Toleranz wäre nicht schlecht, denn jemand, der nicht gendert, ist deswegen nicht ein Frauenhasser. Vielleicht ist es jemand, dem das Gefühl von sprachlicher Ästhetik nicht ganz unwichtig ist.

Mir fällt gerade ein, dass ich unbedingt hier über meinen Vegetarimus schreiben sollte …

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