Ich habe heute einen freien Tag und dessen aktive Hälfte bereits hinter mich gebracht. Ich war dermaßen aktiv, dass ich mich kaum noch bewegen kann und mich darauf verlegte, mich auf die Couch zu legen, um „Das Grauen“ zu sehen, einen kanadischen Filmklassiker mit atemberaubend schlechter Synchronisation, die dann wohl auch der Grund für den deutschen Titel ist.

„Ich gucke ja immer nur im Original“, schrieb mir dazu Femilia eben auf Whatsapp. Und ich gab zurück, dass ich ja immer nur deutsche Synchro gucke. Aber da gehe doch so vieles verloren, schrieb sie dann, worauf ich erwiderte, dass mir das Verbliebene in aller Regel ausreiche. Zufrieden sein mit dem, was man hat, ist meine Sicht aufs Leben, nicht nach dem Gieren, was nicht da ist. Und ignorieren wir den Logikfehler, dass die englische Tonspur ja durchaus da wäre.

In jenem Film spielen Geräusche eine außerordentliche Rolle, denn es handelt sich im Grunde um einen Horrorfilm. Diese Geräusche wurden meiner fachmännischen Meinung nach vorbildlich ins Deutsche übersetzt und durch weitere Geräusche metallischer Art ergänzt, die aber von draußen kamen, wo inzwischen zu meinem Ärger auch die Sonne scheint, was sie nicht tat, als ich es heute Morgen gebraucht hätte.

Um die Geräuschquelle näher bestimmen zu können, wuchtete ich meinen erschlafften Körper hoch und blickte aus dem Wohnzimmerfenster. Und sehe auf der Einfahrt unserer Nachbargarage …

… den Bunten.

Der Leser wird nun Zeuge, wie eine neue Figur die Bühne des seppologs betritt. Dankenswerterweise muss ich diese Figur nicht erst erfinden, sie ist schon da, der Bunte. Gott war schneller. Der Bunte wird hier im Münsteraner Südviertel der Bunte genannt, weil der rund sechzigjährige Kölner vorn im ergrauten Haar eine lila Strähne trägt. Damit ist er zwar noch nicht bunt (denn ich würde behaupten, bunt wird etwas erst ab dreifarbig), aber halt nicht monoton. Und hätte ich mir die Figur ausgedacht, hieße sie auch nicht einfach nur der Bunte, sondern eher Grantobart oder so. Chance vertan, Bunter!

„Sie ist pink. Sie ist nicht lila, sie ist pink, die Haarsträhne“, warf vor geraumer Zeit meine Verlobte ein, als wir den Bunten einer Bildbesprechung unterzogen. Ich aber finde, sie ist lila. So ein violettes Lila. Vielleicht mit einem Pink-Stich. Oder Rosa. So oder so, lila oder pink, es genügt, damit ein Viertel ihn den Bunten taufte. Und dass überhaupt ein ganzes Viertel diesen Mann kennt, spricht Bände. Und ich behaupte, kaum eine Nachbarschaft gibt es, die nicht ihren Bunten hat. Denn der Bunte ist ein Aufpasser, schlimmer, ein Kümmerer. Er ist einer von denen, die ihre Nachbarn zwangsumkümmern. Und weil die sich nicht wehren, aus gutem Grund, werden diese Menschen zu Schattenbürgermeistern. Unserem Schattenbürgermeister habe ich den Krieg erklärt.

Das weiß er aber noch nicht, da ich noch keine Gelegenheit und Rechtfertigung hatte, mich mit ihm anzulegen. Aber es fehlt nicht an Willen! Ich bin bereit für einen Kampf bis aufs Blut. Denn eines sollte klar sein: Ich zog vor rund eineinhalb Jahren in dieses Viertel, um hier der neue Aufpasser zu werden. Denn das Südviertel bewohne ich nicht zum ersten Mal. Es ist eine fulminante Rückkehr gewesen und als wir vor etwa 15 Jahren hier schon einmal lebten – im selben Haus sogar -, da gab es keinen Bunten. Da gab es keinen Kölner, der meinte, hier im Münsteraner Südviertel der Aufseher sein zu müssen. Und da wollen wir wieder hin. Naja, was heißt „wir“?!, meine Verlobte ist zwar auch kein Fan des Bunten, aber kann irgendwie mit seinem Dasein leben. Der Hass gegen den Bunten, das ist mein ganz persönlicher Hass.

Draußen steht also gerade der Bunte und befreit mit schwerem Gerät seine Einfahrt von Unkraut. Unkraut heißt heute, politisch korrekt natürlich, Beikraut. Beikraut ist aber nichts anderes als Unkraut. Zwischen den Pflastersteinen seiner Einfahrt will man kein Unkraut und ich noch weniger Beikraut. Und weil der Bunte seine Garage mit Strom aus unserem Haus bezieht – ein Umstand historischer Wucherung -, befreit er auch alle paar Monate im Gegenzug unsere Einfahrt vom Umkraut gleich mit. Ja, das ist nett. Aber der Bunte wird es uns bei erstpassender Gelegenheit zum Vorwurf machen.

Während die Hauptfigur im Grauen gerade mittels eines Mediums herauszufinden versucht, wer oder was in seinem Haus spukt, höre ich lautes Rufen von draußen. Wieder erhebe mich unter altersgemäßem Stöhnen, um mir das vermutlich vom Bunten verursachte bunte Treiben auf der Straße anzusehen. Und tatsächlich: Er ist es, der gerade einen Autofahrer (Opel Kadett E!) anpöbelt, weil dieser vermutlich wider besseres Wissen von der falschen Seite aus in unsere Straße gefahren ist. Es ist mitnichten eine Einbahnstraße, man darf sie allerdings nur von einem Ende aus einfahren. Ich selbst habe viele Monate nicht gewusst, dass das aber nicht bedeutet, dass ich beispielsweise aus unserer Garage kommend nicht in die vermeintlich falsche Richtung fahren darf. Erklärt hat mir diese Spezialität natürlich: der Bunte. Denn er erklärt seinen Nachbarn gerne, wie die Dinge laufen. Und es ist insbesondere die Straßenverkehrsordnung, die es ihm angetan hat. StVO – die kennt er aus dem Effeff. Und wenn nötig, erklärt er auch den Ordnungsbeamten der Stadt die Feinheiten dieses Regelwerkes. Denn zum Ordnungsamt pflegt er wie auch zu seinen Nachbarn regen Kontakt. Beispielsweise wenn meine Verlobte und ich Besuch haben, dem wir natürlich gestatten, vor unserer Einfahrt zu pareken, uns also zuzuparken. Regelmäßig übernehmen wir dann aber gerne die Kosten der Knöllchen, die das Ordnungsamt dann auch verteilt.

Dass der Bunte der Denunziant ist, wissen wir, weil wir beim Ordnungsamt angerufen haben. Denn das wird bei zugeparkten Garageneinfahrten nur auf Anruf hin tätig und wir wollten wissen, war anrief. Und weil Datenschutz beim hiesigen Ordnungsamt nicht Teil der StVO ist, erzählte man uns bereitwillig, wer denn immer das Ordnungsamt anrufe: der Bunte. Denn dort kennen sie ihn auch schon.

Der Kadettfahrer legte den Rückwärtsgang ein, um in korrekter Fahrtrichtung die Straße wieder zu verlassen. Ich verließ somit meinen Logenplatz, um wieder ins Sofa zu sinken, da auch ich gerne wissen wollte, wer zur Hölle im Haus des Grauens spukt. Doch meine Gedanken schweiften ab und ich ahtne: „Darüber werde ich schreiben müssen.“

Und deshalb sitze ich jetzt am Rechner, damit der Leser vom Bunten erfährt.

Meine erste Begegnung mit ihm hatte ich, als wir vor rund zwei Jahren begannen, diese Wohnung kernzusanieren. Ich selbst bekam davon nicht viel mit, wohnten wir ja noch woanders. Doch beim Einbau unserer Küche wollte ich natürlich zugegen sein. Die Handwerker, die gerade die Türzargen einsetzten, neuen Putz auf die Wände auftrugen und in unseren künftigen Garten schifften (Es gab ja noch kein Klo!), wussten mit mir nichts anzufangen, da sie mich vorher nie gesehen hatten.

„Ja, also ich ziehe hier demnächst ein. Ich bin der Freund von …“, erklärte ich, „Gleich kommen die Küchenbauer, da wollte ich dabei sein.“ Interessierte niemanden und man ließ mich gewähren.

Auf der Hälfte des Einbaus der Küche klingelt es an der nicht vorhandenen Wohnungstür. Denn auch die gab es damals nicht, es war eine offene Ruine. Da nun auch niemand dem Klingelnden die Tür mangels Tür öffnen konnte, kam dieser also direkt rein. Was ich damals so noch nicht wusste: Das war der Bunte. Für mich war es ein älterer Herr mit lila Strähne. Er kam rein. Er kam einfach so rein. Sah die Handwerker, sah mich und sagte: „Hier ist ja alles rausgerissen. Mein lieber Mann! Geht’s denn voran?“, fragte er laut in den Raum. Ich sagte: „Gerade wird die Küche eingebaut“.

„Na, dann wollen wir doch mal gucken!“

„Wollen wir?“

„Einer muss Ihnen ja auf die Finger gucken!“, grunzte er. Er grunzte nicht, aber ich las zuletzt so viele Bücher, in denen Leute gegrunzt haben, und ich wollte es auch mal schreiben.

„Auf die Finger gucken?“

„Der Hausherr lässt sich ja nie blicken!“, lachte er und ging ganz selbstverständlich in den Raum, der gerade unsere Küche wurde. „Ja, ich sehe schon, wenn das am Ende so schief bleibt, läuft denen das Öl in der Pfanne immer an die Seite! Soll ich mal ’ne Wasserwaage holen?!“

„Ich glaube, die kriegen das auch ohne Ihre Hilfe hin“, und raffte plötzlich, etwas spät, dass er mich für einen Küchenbauer hielt. Das erklärte auch, warum er so schamlos die fremde Wohnung betrat.

„Verzeihung, wer sind Sie eigentlich?“

„Ich bin Ihnen keine Erklärung schuldig.“

„Ach so. Das wusste ich nicht. Kommen Sie öfter in diese Wohnung?“

„Ja, nun, ich kenne das Haus ja nun schon ’ne Weile, habe die Garage nebenan. Die Trottel zahlen meinen Strom. Zu seiner Zeit gehörte meine Garage noch zu diesem Haus, das wurde dann irgendwann getrennt. Nur der Strom halt nicht. Wenn die wüssten, was ich mit ihrem Strom alles in meiner Garage betreibe!“

Da lachte die Kölner Frohnatur und ahnte nicht, es mit einer Ausgeburt an stoischer, westfälischer Sturheit zu tun zu haben, die vieles kann, aber eines sicher nicht: Küchen bauen.

Er ging dann irgendwann, nachdem er mir noch frohes Schaffen wünschte, auch wenn er den Eindruck habe, das sei meine erste Küche, die ich da baute. Und ich ließ ihn passiv in dem Glauben, ich sei einer der Küchenbauer. Denn ich freute mich da bereits auf unser Wiedersehen, wenn wir in unsere Wohnung eingezogen sein würden.

„Was ein Arsch!“, sagte Robert. Robert war der echte Küchenbauer. Ein ganz passabler Kerl, der im Übrigen uns eine ausgeprochen gerade Küche eingebaut hatte. Den werden wir dennoch bald wiedersehen, da wir unsere Küche demnächst etwas aufrüsten wollen. Ich freue mich schon auf Robert, der einen ungewöhnlichen Nachnamen hat, den ich hier aber leider für mich behalten muss. Datenschutz. Wir sind ja nicht beim Ordnungsamt.

Das übrigens hatte mir kein Knöllchen verpasst, als ich vor meiner eigenen Einfahrt parkte. Der Bunte war immerhin so fair, dass er nicht direkt das Amt anrief, sondern bei uns klingelte. Leichtsinnig öffnete ich damals die Tür. Und so konnte der Bunte mir erklären, warum es ihm gegen den Strich geht, wenn ich vor meiner eigenen Einfahrt parke. Aber das ist eine andere Geschichte. Und es ist der Kriegsgrund.

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