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Herr Abendfahl führt aus Gewohnheit ein unspektakuläres Leben. Es war nie anders und auch durchaus so gewollt. Hintergrund ist eine von ihm entwickelte Theorie: Wenn bereits das Grundrauschen des Alltags eher leise ist, bedeuten kleine Unregelmäßigkeiten relativ dazu bereits große Aufregung, sodass Herr Abendfahl letztlich nicht viel braucht, um so etwas wie Abwechslung zu verspüren. Wo andere am Wochenende auf Berge klettern, von denen sie dann angeseilt wieder herunterspringen, genügt Herrn Abendfahl ein Spaziergang, um auf ähnliche Touren zu kommen. Oder ein Erwachen wie jenes am ersten Adventswochenende.

Was zunächst ein herkömmlicher Samstag werden sollte, wird zum ersten Adventssamstag, als Herr Abendfahl via Radio erfährt, dass trotz der zweistelligen Temperaturen da draußen der erste Advent ansteht. Der Radiomoderator führt ein so genanntes „Kollegengespräch“, wie es sich schimpft, wenn Radiomoderatoren betont locker mit ihren Kollegen plaudern, die aber gar nicht Studio sind, da nur die Fragen des Moderators live sind, während die ebenfalls betont lockeren Antworten in Bits (früher: vom Band) abgespielt werden.

„Siehst du, Bello, das ist genau der Grund dafür, warum ich Formatradio verachte!“, sagt Herr Abendfahl zu seinem Hund, „Diese gewollte Coolness, mit der sie über Belanglosigkeiten reden, ist unerträglich. Dazu diese geschliffenen, charakterlosen Stimmen, die alle einem Hochdeutschideal nacheifern, obwohl doch zum Beispiel ein schön dreckiges Westfälisch sich abhebt von dem ganzen Einheitsbrei!“

Bello wedelt mit seinem Schwanz und freut sich, dass er irgendwie beachtet wird.

„Aber ich gebe zu, ohne den Moderator mit seiner übertrieben sonoren Stimme hätte ich glatt vergessen, dass morgen der erste Advent ist!“

Diese Erkenntnis ist für Herrn Abendfahl nicht unwichtig, da er Weihnachtsfan ist und mit dem jeweils ersten der vier Advente die Saison der Besinnlichkeit einläutet.

„Bello, wir müssen in die Stadt! Weihnachtsdeko kaufen!“

Nicht Bello antwortet, sondern der Mann im Radio:

„Pech für diejenigen also, die sich heute in den ersten Weihnachtsstress stürzen müssen. Machen wir weiter mit unserem Gewinnspiel, dem ‚geheimnisvollen Geräusch‘ …“

Man hört eine Art Klirren, die Hörer müssen nun erraten, was genau das Geräusch verursacht hat. „Aber von wegen Weihnachtsstress!“, denkt Herr Abendfahl, „Ich lasse mir doch von anderen keinen Stress oktroyieren!“ Bello wedelt unbeeindruckt weiter mit seinem Schwanz, um sich nicht anmerken zu lassen, dass er mit „oktroyieren“ nichts anfangen kann.

Herrn Abendfahl ist es seit Jahrzehnten schleierhaft, warum er, trotzdem er jedes Jahr neue Weihnachtsdeko kauft, nie zu viel derer hat, sondern eher immer zu wenig. Er ist regelrecht nervös bei der diesjährigen Bestandsaufnahme, als er feststellt, dass das Vorhandene tatsächlich nicht ausreicht, um wirklich jeden Winkel der Wohnung auf Besinnlichkeit zu trimmen.

Er ist Fan der mittelgroßen Einkaufscenter, wo er alles findet, ohne dabei jedoch den Überblick über den Lageplan der Geschäfte zu verlieren. Er lernt ihn auswendig, bevor er eines dieser Häuser betritt. Auch die Reihenfolge der Läden, die er aufsucht, legt er vorab fest. Er beginnt im „Dänischen Bettenlager“, das in Dänemark ganz anders heißt und von einem Lars Larsen gegründet wurde, was eine gewisse Einfallslosigkeit der dänischen Namensgebung offenlegt. Betten findet er hier nie, im Bettenlager, dafür aber unbegrenzt Deko. Nach wenigen Minuten hat er eine neue Lichterkette für den Weihnachtsbaum erworben (die sich noch als billiger Schrott herausstellen soll), einen seltsamen Weihnachtsgnom aus Plüsch sowie mehre Holzfiguren in seinem Korb liegen, den Bello hinter sich herzieht. Diese Holzfiguren sind mitnichten kitschig, sondern eher komisch.

„Ein Schaf, das auf zwei Beinen steht …“, schmunzelt Herr Abendfahl in seinen Bart. Und greift gleich drei dieser Schafe aus dem Regal. Herdentiere.

„Payback-Karte?“, will die junge Dame an der Kasse wissen.

„Was?“

„Haben Sie eine Payback-Karte?“, die Kassiererin nun konkreter.

„Nein. Müsste ich?!“

„Nein.“

„Damit betreibt ihr Data-Mining! Als Kunde zahlt man einen höheren Preis als man als Bonus wieder herausbekommt! Ohne mich!“

„ADAC-Clubkarte?“

„Was? Im Bettenlager?!“

„68,60 macht das. EC-Karte?“

„Nein. Halt! Doch! Ja! EC.“

Herr Abendfahl zahlt nur mit EC-Karte, da ein volles Portemonnaie seine hintere Hosentasche nur ausbeulen würde.

„Andersherum!“, mahnt die Kassiererin, „Magnetstreifen nach unten!“

„Was? Achso. Seltsam“, Herr Abendfahl wendet die Karte in seiner Hand und versucht es abermals, „Mache ich zum ersten Mal, mit Karte zahlen.“

Die Kassiererin ist überfordert und versteht nicht, dass Herr Abendfahl (schlecht) scherzt. Der:

„Naja, gut.“

und unterschreibt den Kaufvertrag. Die Kassiererin gibt ihm den Bon und wie das seltsam oft geschieht bei der Übergabe von Dingen an Kassen: Der Empfänger greift nicht richtig zu und das zu Übergebende fällt zu Boden. Das kann Wechselgeld sein oder wie in diesem Falle die Quittung. Herr Abendfahl glaubt, dass sei das Resultat der Angst, das fremde Gegenüber versehentlich zu berühren.

„Oh, ich nehme zum ersten Mal Quittungen an!“, quittiert Herr Abendfahl seinen kleinen Fauxpas und findet das selbst fast so unlustig wie die Kassiererin, die völlig verständnislos dreinblickt, weil sie nicht weiß, ob sie es mit einem Verwirrten zu tun hat. Der Verwirrte blickt nach unten zu seinem Hund und sagt:

„Ich werde wie mein Vater. Ich verhalte mich manchmal sehr peinlich, wenn ich mich für lustig halte, Bello. Wer außer dem Tod kann das stoppen?!“

Wegen eines Schlittens in der Auslage des nächsten Ladens muss Herr Abendfahl einen außerplanmäßigen Stopp bei „Nanu Nana“ einlegen.

„Ich brauche diesen Deko-Schlitten!“, sagt er zu seinem Hund, der seinen Schwanz einzieht, als eine Gesangskapelle plötzlich meint, im Einkaufscenter singen zu müssen. Gesangseinlagen in diesen Einkaufstempeln sind grundsätzlich viel zu laut und völlig déplacé. Herr Abendfahl überlegt, die Einkäufe umgehend abzubrechen, bleibt jedoch standhaft, da er sich vorgenommen hatte, maximal entspannt und unbeeindruckt von externem Stress zu bleiben – auch um jenen Radiomoderatoren zu widerlegen.

Nachdem Bello mit seinem wieder wedelnden Schwanz eine Vase aus dem Regal gerissen hat, stößt Herr Abendfahl mit dem Deko-Schlitten einen Turm aus Christbaumkugeln um. Das bekommt niemand so richtig mit, da gleichzeitig am anderen Ende des Ladens eine Kundin mit ihrem Einkaufskorb eine Pyramide aus lustigen Tee-Tassen mit Elch-Aufdruck umwirft. Das daraus resultierende Geräusch übertönt sogar den Gospelchor draußen, der mit einer Rückkopplung zu kämpfen hat.

Eine Verkäuferin rennt aus dem Ladenlokal und hechtet den fortrollenden Christbaumkugeln hinterher.

„Das wird ein übler Versicherungsfall, wenn jetzt ein Passant über eine der Kugeln stolpert und ins Schlawingern gerät!“, denkt Herr Abendfahl, doch die Verkäuferin scheint routiniert im Einsammeln von Kugeln zu sein.

„Das geschieht hier oft!“, sagt sie dann auch.

„Wenn Sie die Regale und Aufsteller noch enger zusammenstellen, könnten sie sich gegenseitig stützen“, empfiehlt Herr Abendfahl und merkt, dass auch dieser Scherz nicht als solcher aufgenommen wird.

„Aber die Kunden müssen doch auch noch Platz haben!“, bauernschlau die Verkäuferin, während sie die Kugeln wieder auftürmt.

„Ah, ja. Stimmt“, resigniert Herr Abendfahl, „Übrigens, eine gute Idee, Kugeln aufzutürmen!“

„Finden Sie?“, die Verkäuferin bass erstaunt.

„Äh, nein. Das war, also das sollte ein Scherz … Wo ist die Kasse?“

 

Wieder zuhause entfernt Herr Abendfahl die Ganzjahres-Deko, um Platz für die neu angeschaffte Weihnachtsdeko zu schaffen. Bello setzt er die neue Weihnachtsmannmütze mit LED-Blinker auf, der Schlitten wird im Flur platziert und im Hintergrund läuft:

Herrn Abendfahls favorisiertes Weihnachtslied. Bello steht vor dem Spiegel und greift sich mit der Pfote an seine alberne Mütze.

„Bello!“, ruft Herr Abendfahl begeistert, „Das beweist, dass du dich selbst im Spiegel erkennst!“

Bello nickt dem Spiegelbild Herrn Abendfahls zu und wirkt für einige Sekunden erschreckend intelligent.

Bis zum Abend hat sich Herrn Abendfahls Wohnung in eine Weihnachtshölle verwandelt. Dieser setzt sich auf seine Couch und wartet nun auf den Sonntag, auf den ersten Advent. Damit er endlich die erste Kerze anzünden kann.

„Bello! Ich hab’s! Das ‚geheimnisvolle Geräusch‘ im Radio war eine vom Baum fallende Christbaumkugel! Verdammt, hätte ich mal mitgespielt!“


Alle Geschichten um Herrn Abendfahl: hier!


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